Die Nägel in den Köpfen

Europa ein Tollhaus, die Zukunft das Mittelalter: Vladimir Sorokin beschreibt in seiner Dystopie „Telluria“ in 50 Geschichten die Zeit nach dem Zerfall der bestehenden Staaten auf dem eurasiatischen Kontinent.

Als im Jänner dieses Jahres Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ erschien, war die Aufregung groß. Dass der Autor darin das Frankreich einer nahen Zukunft unter moslemischer Herrschaft beschrieb, regte auch all jene auf, die das Werk (noch) gar nicht kannten. Als vor Wochen Vladimir Sorokins Roman „Telluria“ auf Deutsch erschien, gab es keine solchen Aufregungen, weder in Bonn noch in Berlin. Nur Lob in den Feuilletons. Dabei sind in Sorokins Roman, der in den späten Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts spielt, drei Jahre Talibanherrschaft im Rheinland gerade vorüber, und in Köln wird endlich wieder Karneval gefeiert. Verstörend ist „Telluria“ allemal.

Die fiktive Zukunft bot dem Russen schon öfter Gelegenheit, kritisch die Vergangenheit und Gegenwart Russlands zu reflektieren. In „Der Tag des Opritschniks“ (2008) blickte er 20 Jahre voraus in die Zukunft: Russland beschrieb er als hoch technisiert, die Abschottung von Europa ist durch eine große Mauer zementiert (ab und zu wird der Gashahn zugedreht), und Beziehungen werden nur mit China unterhalten, aus ökonomischen Gründen. Als „Vorlage“ diente Sorokin das System Iwan des Schrecklichen aus dem 16. Jahrhundert. Entsprechend entsetzlich sind die Gewalttaten, die der Ich-Erzähler, ein Täter, beschreibt.

Nun zeigt sich die Zukunft als Mittelalter. Der eurasiatische Kontinent ist „nach dem Zusammenbruch der ideologischen, geopolitischen und technologischen Utopien . . . endlich in ein gesegnetes aufgeklärtes Mittelalter gesunken“. Ritter und Großmeister bevölkern die Szene, statt Benzin verseuchen Pferdeäpfel Moskau. Und die einstigen Staaten sind zersplittert.

Zerbröselt ist Russland. Da gibt es die Stalinistische Sozialistische Sowjetrepublik, die Touristen aus der ganzen Welt anlockt: „Linksradikale, Trotzkisten, Anarchisten jeglicher Couleur, Rebellen mit lebenden Tattoos von Che Guevara, Veteranen von Partisanenkriegen, populäre Schriftsteller, lebensmüde und nicht lebensmüde Geldsäcke, Masochisten, Fetischisten, Verrückte und schließlich einfach Touristen . . .“ Da gibt es die Monarchie in Rjasan, wo Modernisierungen in der Sprache verboten sind und auf Erbsen knien muss, wer „Internet“ sagt. Da gibt es Moskowien, eine „Verbindung von übermäßiger Verzuckerung, Grobheit, Technologie und Ideologie (Kommunismus + Orthodoxie) sowie provinziellem Moder“, ein System, das sich „aufgeklärt theokratisch-kommunofeudalistisch“ gibt.

Zerfallen ist Europa. In Languedoc bereiten Tempelritter einen Kreuzflug vor, ins Goldlager der Nationalbank der Republik Bern wird eingebrochen, und die Rheinisch-Westfälische Republik feiert wieder Karneval. Ganz vorn mit dabei: Präsident General Kasimir von Lützow und Kanzler Safak Bastürk, „der Präsident auf einem Schimmel mit einer weißen Decke, darauf die Kreuzzeichen, der Kanzler auf einem Rappen mit grüner Decke und Halbmond . . . Es symbolisiert nicht nur die Politik unseres Staates, sondern die Einheit zweier Kulturen, zweier Zivilisationen, zweier Religionen, der katholischen und des islamischen.“

Die eurasiatischen Staaten sind in viele kleine Gebiete zerfallen. Aber das Volk bekommt überall seine Drogen. Vertrieben werden sie von der demokratischen Republik Telluria im schönen Altaigebirge, benannt nach dem Halbmetall Tellur und regiert von einem Franzosen. Die Nägel aus Tellur, die von Zimmermännern in die Köpfe jener geschlagen werden, die glücklich sein wollen, halten die 50 Geschichten des Romans zusammen. Denn alle wollen diese Nägel in den Kopf gehämmert bekommen. Entweder man hat dann Glück und spürt es, oder man hat kein Glück und stirbt. So wie Patrick und Engelbert, die ihre Flitterwochen in der SSSR verbringen und das kostenlose Tellurtripangebot annehmen, bei dem sie angeblich den Genossen Stalin treffen könnten. (Seltsamerweise sterben nur Nichtanhänger des Stalinismus dort an den Nägeln.)

Die Lektüre von „Telluria“ ist unangenehm, nicht nur wegen der Nägel in den Köpfen oder der angebotenen politischen Visionen, sondern auch wegen der erzählten Gewalt. Dann wiederum lesen sich Texte komisch und sehr satirisch. Sorokin hat auch insofern ein faszinierendes Werk geschaffen, als die Zersplitterung der Welt ihre formale Entsprechung in diesen Einzelgeschichten findet. Jede ist in einem anderen Stil verfasst: vom Märchen über politische Aufrufe, Behördenantrag, ideologiegetränkte Reportage, Dramolett, Lexikoneintrag bis zum Gebet. Die sprachliche Vielfalt wurde zwar von einem geschrieben, aber von vielen übersetzt,sie firmieren unter dem Namen des Übersetzerkollektivs „Hammer und Nagel“.

Ständig neue Figuren, neue Orte, neue Erzähler führen auch zu Irritationen über die Zeit, in der man sich gerade befindet, auch, weil futuristische Elemente und mittelalterliche Märchenwelt eine spannende Verbindung eingehen. Sorokin verweist satirisch auf Gegenwartsautoren (Viktor P. meditiert im Mongolenkittel) und plündert genussvoll die russischen Klassiker.

Sprengstoff bietet dieses Werk mehr als genug, es wird aber nicht so diskursiv erklärend erzählt wie in Houellebecqs „Unterwerfung“, sondern zeigt sich in den Fiktionen der literarischen Kleinstwerke. Auch in der Spannung zwischen Anfang und Ende, falls man bei einem Werk, in dem man die Kapiteln in jeder Reihenfolge einzeln lesen kann, überhaupt von Anfang und Ende sprechen kann. „Erschüttern müssen wir die Kremlmauern!“ So beginnt der Roman. „Nicht erschüttern, sondern zerschmettern“, heißt es später. „Und nicht Mauern, sondern morsche Köpfe.“ Doch am Ende schallt dann bloß ein: „Hauptsache, Dach übern Kopf, wos nicht reinregnet, und was zu fressen. Keiner, der einen auf Arbeit scheucht. Des eignen Glücks Schmied sein. Schlafen, wenn einem danach ist. Einzig vor der Sonne sich verneigen. Gekrault wird nur, was ein Fell hat. Geredet nur mit den Vögeln im Walde. Was braucht der Mensch mehr?“ ■

Vladimir Sorokin

Telluria

Roman. Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel. 416 S., geb., € 23,70
(Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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