Horror-Utopia der Jihadisten

Petra Ramsauer beschreibt, wie europäische Jugendliche in die Fänge des „Kalifats“ gelangen.

Die Beschreibungen im kalifats-eigenen Reiseführer sind eine bizarre Behübschung eines Schreckensregimes: Die Extremisten des „Islamischen Staates“ (IS) schildern ihr Terrorgebilde im Irak und in Syrien als Land, in dem „Caffè Latte, Nutella und kleine Kätzchen das Herz erfreuen“. Sie zeigen beschauliche Videos von lachenden, herausgeputzten Kindern und einem Sonnenuntergang am Fluss Tigris. Das ist eine Seite der Selbstdarstellung, mit der die Jihadisten „Bürger“ für ihr Projekt eines neuen Staates gewinnen wollen. Die andere ist die Verbreitung des Horrors: Videos von Köpfungen und Kreuzigungen, die der IS ins Internet stellt – um seinen Feinden Furcht einzujagen und zugleich junge Männer zu faszinieren, die in die Reihen der IS-Kämpfer aufgenommen werden wollen.

Die Paarung von unermesslichem Grauen mit der unfassbaren Banalität einer schöngefärbten Alltagswelt ist eine Facette der IS-Propaganda, die PetraRamsauer in ihrem Buch schildert: „Die Dschihad-Generation – Wie der apokalyptische Kult des Islamischen Staats Europa bedroht“ heißt das Werk der Journalistin, die seit vielen Jahren aus dem Nahen Osten berichtet – in den vergangenen Jahren vor allem aus Syrien und Libyen.

Ramsauer erzählt, wie ein 21-jähriger Jihadist ihr gegenüber beteuert, dass es im Reich des IS „viel schöner ist, als ihr es wahrhaben wollt“. Das massive Unrecht, das der IS an seinen Opfern begeht, wird als solches nicht akzeptiert, das tägliche Kriegselend wird ausgeblendet, wenn junge Männer und Frauen von ihrem Paradies „Kalifat“ schwärmen.

Ramsauer zeichnet unter Verarbeitung umfangreichen Quellenmaterials und in Interviews mit Betroffenen die Gedankenwelt der „Generation Dschihad“ nach. Was hoffen diese Jugendlichen in Syrien und im Irak zu finden? Wer sind sie? Mit welchen psychologischen Tricks werden sie von den jihadistischen Seelenfängern verführt?

Das Anwerben neuer Kämpfer

„Der erste Schritt besteht darin, ihn ganz aus seiner Umgebung zu lösen. Versuche entweder, einen neuen Freundeskreis für deinen Schützling zu finden, oder beanspruche so viel von seiner Zeit, dass er nicht mehr dazukommt, jemand anderen zu sehen“, heißt es in einem Handbuch über das Anwerben neuer Kämpfer, das die al-Qaida im Irak 2009 veröffentlicht hat. Und weiter: „Der Recruiter muss in allen Gesprächen sehr genau zuhören, wann immer es geht, sich empathisch an den Glücksmomenten und den Problemen beteiligen.“ Diese Methoden der IS-Vorläuferorganisation scheinen noch immer in Verwendung – vor allem auch in Europa, wo Tausende von den Jihadisten rekrutiert worden sind, um in Syrien zu kämpfen; oder um verheerende Attentate im Herzen Europas auszuführen, wie zuletzt in Paris.

Doch nicht nur junge Männer mit Sprengstoffgürtel und Kalaschnikow spielen im Islamischen Staat eine Rolle. Petra Ramsauer legt dar, dass das „Kalifat“ auch ein Projekt vieler Frauen ist. Sie hinterfragt dabei das Klischee der „Dschihadistenbraut“ – der Frau, die gelenkt von romantischen Vorstellungen einen Kämpfer ehelicht. Vor allem Tschetscheninnen, Tunesierinnen, aber auch Europäerinnen sind Teil des IS-Unterdrückungsapparats. Sie überwachen die lokalen Frauen. Und sie werben über Internet andere Mädchen in Europa an – damit auch diese mitwirken am Aufbau des Horror-Utopia-Staates „Kalifat“. ■

Petra Ramsauer

Die Dschihad-Generation

Wie der apokalyptische Kult des
Islamischen Staats Europa bedroht. 208 S., geb., € 24,90 (Styria Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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