Lass dich treiben!

Unter Wasser, ins Dachgeschoß, auf die Straße der verlorenen Zeit, ins Ghetto, in den Orient, nach New York und anderswohin bringen uns die Kinderbücher der Saison.

„Die Unterwasserwelt ist fantastisch. ,Schau!‘, ruft Leppo begeistert. ,Wie still es im Ozean ist!‘ Plötzlich ist da eine Riesenkrake.“ Papa und Mama sitzen am Bett ihres kranken Buben – und sie wollen alles für ihn tun. Leppos Wunsch ist überraschend: Er will die Welt sehen. Also besteigt Papa mit seinem Sohn einen Fesselballon. Die Steirerin Helga Bansch hat schon viele entzückende Bilderbücher gemacht, als Autorin, als Illustratorin. Dieses ist ein gleichermaßen fantasievolles wie praxisnahes. Helga Bansch (Text und Illustration): Am Nordpol ist alles wieder gut. Ab drei Jahren. 32 S., geb., 14,99 € (G&G Verlag, Wien).

ZWIESPRACHE MIT VÖGELN HALTEN.„In der ersten Nacht lag es wahrscheinlich an unserer Aufregung, dass wir nicht sofort entdeckten, was vor unseren Augen geschah.“ Madame Merlot ist eine Verwandte von Mademoiselle Oiseau (siehe nächstes Buch). Sie wohnt im Dachgeschoß, hält Zwiesprache mit Vögeln, und sie steckt fantasievolle Ratgeber in den Sand: Bilder von Katzen, Elefanten, Wolken, auf denen beispielsweise zu lesen steht: „Sieh's mal anders rum“ oder „Lass dich treiben“. Die Kinder folgen Madame Merlot auf ihren nächtlichen Streifzügen. Der gebürtige Kieler Einar Turkowski ist ein preisgekrönter Zeichner und Illustrator. Auf seiner Homepage gibt er Einblick in seine Arbeitsweise. Einar Turkowski (Text und Illustration):Die Nachtwanderin. Ab fünf Jahren. 32 S., geb., 17,40 € (Mixtvision Verlag, München).

DIE GEHEIMNISVOLLE VOGELFRAU.„Da geschieht es. Ist es Mademoiselle Oiseau, die Luisas Hand nimmt? Oder ist es Luisa, die nach Juliette greift? Langsam heben sie aus den Booten ab.“ Zum Abheben ist auch dieses Buch, kein Fall für Leute, die immer genau wissen müssen, was läuft, sondern für jene, die gern auf unsicheren Pfaden in ungewisse Richtungen balancieren. In der Pariser Straße der verlorenen Zeit (Proust?) lebt im Dachgeschoß mit Katzen die geheimnisvolle Vogelfrau, die sich mit der neunjährigen Isabella im Stock darunter angefreundet hat. Im zweiten Buch verfügt sich Mademoiselle Oiseau nach Venedig, zwei Mädchen erforschen ihre Vergangenheit. Leser, die ihnen folgen, lernen einige Wörter Französisch, noch mehr aber über Poesie und Lebensart. Die Autorin ist PR-Managerin in einem Modehaus, die Illustratorin ist eine gefragte Modezeichnerin für diverse Magazine. Andrea de la Barre de Nanteuil (Text), Lovisa Burfitt (Illustration): Mademoiselle Oiseau und die geheimnisvollen Briefe. Aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen. Ab acht Jahren. 144 S., geb., 20,50 € (Die Gestalten Verlag, Berlin).


HARTES BROT UND ERSATZKAFFEE.„Die Tante Leni, die Tante Kamilla, die Tante Popper und die Mama richten zusammen das Frühstück her. Es gibt kaum etwas, nur das dunkle, harte Brot und den Ersatzkaffee.“ Als Kind war Annika Tetzner, die heute als bildende Künstlerin in Israel lebt, im KZ Theresienstadt. Ihr Buch erinnert an Anne Frank, diese Mischung aus Verzweiflung, Resignation und hellen tröstlichen Momenten mit der Familie, dem großen Bruder und Annikas bestem Freund, dem einbeinigen Hampelmann Maximus. Eines Tages beginnt Herr Maximus zu sprechen und erzählt, er sei ein Zauberer. Annika Tetzner: Die rote Masche. Ein Shoahbuch für Kinder und Erwachsene. Mit einer Einleitung von Elisabeth von Samsonow. Ab sieben Jahren. 112 S., geb., 15 € (Edition Splitter, Wien).

Stimmen hören.„Mein Dad meinte, er hätte einmal eine Stimme gehört. Als er noch ein Junge war. Es war die Stimme eines Mädchens, die zu ihm sprach. Sie hätte ihm geholfen, sagt er.“ Ein Fantasybuch der etwas anderen Art, zart und originell. Ryans Mutter ist tot, sein Vater hat wieder geheiratet. Nathan, der Sohn seiner neuen Frau, Sophie, ist ein absoluter Widerling. Die introvertierte Ameliah hat gar keine Eltern mehr und wächst bei ihrer Großmutter auf. Am liebsten beschäftigt sich Ameliah mit den Hinterlassenschaften ihrer verstorbenen Mutter, die Gitarre gespielt hat. Und dann ist da noch dieser alte Kassettenrekorder, aus dem es knistert, und eines Tages hört Ameliah eine Stimme. Autor Steven Camden ist in Großbritannien ein bekannter Slam-Poet. Seine lautmalerischen Clips als Polarbear („It's about Love“, „The Birth of a Poet“), eine Art Mini-Shakespeare, sind auf YouTube zu sehen, dort stellt er auch sein Buch vor. Steven Camden: Press Play. Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Ab zwölf Jahren. 342 S., 17,47 € (Ravensburger Verlag, Ravensburg).

DAS LEBEN DES PROPHETEN.„Wie sollte Mohammed beweisen, dass er mehr war als ein Dichter oder Wahrsager?“ Mohammed-Biografien gibt es viele. Diese ist etwas Besonderes. Lorenz Just, 32, Islamwissenschaftler, hat eine umfangreiche, lebendige und vielschichtige historische Betrachtung rund um die Entstehung des Islam gebaut, in der das Spirituelle eine zentrale Rolle spielt. Religion wird ernst genommen, nicht angezweifelt oder ironisiert, ein durchaus erfrischender Kontrast zum Mainstream. Ausführlich werden das jüdische und das christliche Umfeld beschrieben, in dem Mohammed sich durchsetzen musste, was keineswegs einfach war. Just hat in Kairo, im Libanon gelebt, den Jemen und Syrien bereist. Sein Buch beginnt mit einem persönlichen Erlebnis am Dschabal Musa (auch Mosesberg, Berg Sinai). Lorenz Just: Mohammed. Das unbekannte Leben des Propheten. Ab 14 Jahren. 240 S., 17,50 € (Gabriel Verlag, Stuttgart).

DYSTOPIE AUS NEW YORK.„Es wird rasch hell. Als wir die Mole erreichen, geht die Sonne auf. Immer noch kein Wort von unseren Geiselnehmern. Ich halte nach Donna Ausschau.“ Eine geheimnisvolle Krankheit hat alle Erwachsenen dahingerafft. Die Jugendlichen, in Gangs organisiert, bekämpfen einander, manche sind Rowdys, manche Spinner, wie die Sekte, die sich in einer Bibliothek verschanzt hat und an einen Gott namens Information glaubt. Zu den Vernünftigen zählen Donna, Jefferson oder Superhirn Brainbox. Der 1969 geborene New Yorker Chris Weitz kennt seine Stadt und die Jugendkultur. Weitz hat mehrere bekannte Filme gedreht, darunter „New Moon“ aus der Twilight-Saga, „About a Boy“, „Der Goldene Kompass“ und „A Better Life“. Die Dystopie „Clans von New York“, die im Gefolge des „Hunger Games“-Hypes sicher bald verfilmt werden wird, ist sein Romandebüt. Chris Weitz: Young World – Die Clans von New York.Aus dem Amerikanischen von Gerald Jung und Katharina Orgaß. Ab 14 Jahren. 384 S., brosch., 19,50 € (Deutscher Taschenbuch Verlag, München). ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.