Reno will New York erobern

Geschwindigkeit, Kunst, Gewalt: Rachel Kushner lässt eine junge Frau aus der Provinz in den Big Apple ziehen, um Künstlerin zu werden. Zwischen Kellnern und Performance ist noch Zeit für eine wahre Amour fou.

Die in Oregon geborene, überwiegend in San Francisco aufgewachsene und heute mit Mann und Sohn in Los Angeles lebende Rachel Kushner wird momentan als neue Wunderwaffe der US-Literatur auf dem internationalen Buchmarkt in Stellung gebracht. Garniert mit erfrischenden und überdies exakt zum Inhalt ihres zweiten Romans, „Flammenwerfer“, passenden biografischen Angaben: „Sie liebt schnelle Motorräder und Skirennen.“

Rachel Kushner ist zweifelsfrei ein Liebkind des Betriebs: Zwei Romane hat sie bisher veröffentlicht, und beide sind für den National Book Award nominiert worden – „was noch niemandem vor ihr gelungen ist“ (Klappentext).

Auf 560 Seiten erzählt Rachel Kushner ausladend die Geschichte ihrer Protagonistin und deren Umfeld aus neuer Kunst und altem italienischen Industrieadel. Die junge, aus bescheidenen Verhältnissen stammende Frau, die ein Kunststudium absolviert hat und für die Kunst mit Risiko zu tun haben muss, sucht – der Roman spielt in den 1970er-Jahren – in New Yorks Konzeptkünstlerszene Fuß zu fassen. Dort sind die Grenzen zwischen Kunst und Leben gelegentlich fließend. Die als Kellnerin jobbende Künstlerin spielt das Kellnern als Rolle, empfindet die Ausübung ihres Brotberufs als künstlerische Performance.

Die junge Frau firmiert im Roman nur unter Reno, ihrem Spitznamen, da sie aus dieser Kleinstadt – Slogan: „The Biggest Little City in den World“ – in Nevada stammt. Sie liebt die Geschwindigkeit, ist früher Skirennen gefahren (Julia Mancuso kommt übrigens auch aus Reno!) und fährt seit ihrem 14. Lebensjahr Motorrad – damals mit ihren Cousins „in den Wäldern hinter unserem Haus“. Renos erste Erfahrung im Big Apple ist massive Vereinsamung, danach gelingt es ihr, über Liebesverhältnisse mit Künstlern wie dem originellen Ronnie (gleichfalls bescheidener Abstammung), in Sohos Kunstszene vorzudringen, die um die von allen hofierte und augenscheinlich über künstlerisches Sein und Nichtsein entscheidende Galeristin Helen Hellenberger kreist. Nach Ronnie wird sie gewissermaßen von dessen viel älterem Freund Sandro „übernommen“, dem Erben der italienischen Motorrad- und Reifenfirma Valera. Reno besitzt übrigens eine Moto-Valera-Maschine.

Es sind die Themenkomplexe Geschwindigkeit, Kunst und Gewalt, die Kushner in ihrem Roman in oft metaphernreicher Sprache miteinander verwebt. Dabei kümmert sie sich nicht um eine durchgehende Perspektive. Das meiste wird aus Renos Sicht erzählt, anderes wiederum von einem allwissenden Erzähler, am Ende gibt Sandro noch aus seiner Sicht das zuletzt Vorgefallene wieder, obwohl er über hunderte Seiten hinweg über keine eigene Erzählstimme verfügt hat.

Kushner schildert alles in großer Ausführlichkeit – ich will mir nicht ausmalen, welch furchtbarer Vergehen europäische, gar österreichische Autoren (von österreichischen Kritikern!) in so einem Fall geziehen würden, nähmen sie sich beispielsweise heraus, Renos Rekordversuch mit dem Motorrad auf dem Salzsee auf vergleichbare Weise in allen Einzelheiten zu beschreiben.

Der Roman setzt mit dem starken Bild aus dem Ersten Weltkrieg in Italien ein, als Sandros Vorfahre als Freiwilliger eines Motorradbataillons 1917 einem Deutschen mit dem Motorradscheinwerfer den Schädel einschlägt. Der Romantitel bezieht sich ebenfalls auf Kriegerisches: Sandro spielt als Kind am liebsten mit den Figuren der Flammenwerfer (aus dem Ersten Weltkrieg), sie „hätten aus einem anderen Jahrhundert stammen können, sie waren brutal und altertümlich, zugleich aber schrecklich modern“, sie spritzten „flüssiges Feuer mit einer fantastischen Reichweite – 50 Meter – in die Unterstände und Schützengräben des Feindes“. Als Teammitglied der Firma Valera stürzt Reno beim Rekordversuch auf einem Salzsee in Utah, den sie vor allem als Kunstaktion geplant hat, um die Spur zu fotografieren, die sie mit dem Motorrad dabei hinterlässt. Die Landart-Kunst hat gerade Hochkonjunktur.

Kushner, die nach ihrem Studium, Literatur und kreatives Schreiben, als Redakteurin für Kunst- und Literaturmagazine gearbeitet hat, hat einen satirischen Zugriff auf die von Eitelkeiten und Konkurrenzdenken beherrschte Kunstwelt. Diese Passagen zählen zu den unterhaltsamsten des Romans. Mit Sandro, der seine Familie verachtet, von ihr niemals geliebt worden ist, fliegt Reno in die Sommervilla über dem Comer See – und erfährt Kälte und Ablehnung durch Sandros Mutter, sein Vater ist schon lang tot. Der ältere Bruder, Roberto, ist brutal gegenüber den Arbeitern der Fabrik, die sich mit ihnen im Krieg befindet. Schließlich wird Roberto, Lieblingssohn der Mutter, ermordet – es ist die Zeit der Roten Brigaden in Italien.

Gelungen ist, wie Kushner herausarbeitet, wie der in New York seine Familie offen ablehnende Avantgardekünstler Sandro in der elterlichen Villa jedes noch so läppische Ritual (Kleidungsvorschriften beim Essen etwa) widerspruchslos akzeptiert. Reno wird von Sandro, der offenkundig niemanden zu lieben imstande ist, mit dessen früherer Geliebten (seiner Cousine!) betrogen, gerät in eine Untergrundorganisation (ein Mitarbeiter der Villa gehört ihr an, sie hilft ihm, illegal von Italien nach Frankreich zu kommen), erlebt später in New York chaotische Zustände bei einem zu Plünderungen führenden Stromausfall.

Kushner packt sehr vieles in ihren Roman, von dem Jonathan Franzen bekundet, ihn zu lieben. Vermutlich nicht zuletzt wegen der schonungslosen Beschreibung der Kälte und Lieblosigkeit, die in der immens reichen italienischen Industriellenfamilie Valera herrscht, in der die als Sklaven ausgebeuteten Kautschukarbeiter, denen sie ihren Reichtum verdankt, auch noch als Idioten verhöhnt werden. Kushner scheut auch nicht vor vielen Wiederholungen zurück. Ihre Stärke beweist sie fraglos in der genauen Beobachtung und Beschreibung von Details; auch wegen Nebenfiguren wie Renos exzentrischer Freundin Giddle oder des originellen Ronnie erweist sich der Roman als lesenswert.

So viel von Politik und Gewalt in dem Buch auch die Rede ist, Rachel Kushner erzählt ein bekanntes Frauenschicksal – Renos Enttäuschungen, die sie durch Männer wie Sandro erleben muss, nehmen breiten Raum ein (ja, Sandros Selbstbezichtigungen am Schluss sind ebenfalls den Verletzungen geschuldet, die er seiner jungen Geliebten zugefügt hat). In diesen Passagen ist Kushners Roman verblüffend nahe bei dem, was sonst despektierlich als Frauenliteratur bezeichnet wird. Auch wenn in den anderen Teilen von „Flammenwerfer“ reichlich Aufrührerisches abgehandelt wird – und die Autorin nie einen Hehl daraus macht, auf wessen Seite sie im Herr-und-Knecht-Verhältnis steht. ■

Rachel Kushner

Flammenwerfer

Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. 560 S., 13 Abb., geb., € 23,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.