Vom Verlust der Utopie

Sensibel, selbstkritisch, subversiv: Peter Strasser setzt der materialistischen Sicht der Dinge seinen Entwurf der „Welt als Schöpfung betrachtet“ entgegen.

Das neue Buch von Peter Strasser kommt leise, bescheiden, schmal daher. Es könnte in der „Zuvielisation“ (Raimon Panikkar), die auch die Buchwirtschaft kennzeichnet, übersehen und überrollt werden. Das sollte nicht geschehen, weil es wichtig ist. Das Buch ist still, aber subversiv, weil es sich der dominierenden naturalistischen, materialistischen Sicht der Welt widersetzt, die Menschen wie Dinge nicht als Zweck an sich begreift, sondern zu ausbeutbaren, kapitalisierbaren, zu verwertenden Einheiten entleert.

In Zeiten, in denen die globale Klimakonferenz Zukunftsfragen der Menschheit verhandelt und nach politischen, technischen, finanziellen, ökonomischen Lösungen sucht, verrichtet der Autor seine philosophische Aufgabe: den Blick auf das Ganze, auf das zugrundeliegende geistige Problem zu richten. Strasser identifiziert es in einer Transzendenzvergessenheit der modernen (man muss ergänzen: westlichen) Gesellschaften, einem durchdringenden Transzendenzverlust. Von ihm her erklärt er zeitdiagnostisch verschiedene Phänomene – nicht zuletzt das, was er Präsentismus nennt, die Fixierung auf die Gegenwart. Er meint damit ein bestimmtes Zeitempfinden, das eine genuin religiöse, also sowohl heilsgeschichtliche als auch utopische Dimension verloren hat – und das sich im rasenden Stillstand der „präsentistischen“ Gesellschaft ausdrückt, der der große Bogen verloren gegangen ist.

„Während wir in die Zukunft stürzen, verharren wir auf unserem Platz des Immerselben, nämlich einer übergeordneten Bedeutungslosigkeit, die, einmal eingetreten, absolut geworden sein wird.“ Eine andere Entwicklung, die er mit dieser fundamentalen Verschiebung im Weltbild der westlichen Moderne verbindet, sind wissenschaftliche Tendenzen, das menschliche Gehirn an die Stelle des „ausrangierten Schöpfergottes“ zu setzen und mit quasigöttlichen Eigenschaften auszustatten. In radikal naturalistischen und empiristischen Theorien der Gehirn- und Bewusstseinsforschung ist der Mensch „nichts als“ ein im zerebralen Zirkel von Gehirn und Bewusstsein gefangener Organismus, nichts als das Geschöpf der eigenen Gehirntätigkeit und ihrer neurochemischen Prozesse.

Strasser setzt diesem wissenschaftlichen Reduktionismus der „hard sciences“, deren Paradigma unser Welt- und Menschenbild prägt, schlicht die menschliche Erfahrung entgegen. Er widerspricht ihm, indem er sehr klar und überzeugend auf „etwas Evidentes im Erleben der Welt“ hinweist: auf unsere Erfahrung, lebendig und frei zu sein, auf die Erfahrung von Schönheit, des geistigen Gehalts der Welt. Und er konstatiert: „Das alles sind Wahrheiten, die dazu führen, uns als ,Geschöpfe‘ zu begreifen.“

Hier wird die grundlegende Logik der subversiven Operation, der „stillen Subversion“ Strassers gegen den naturalistischen Fundamentalismus, erkennbar: Der Autor plädiert nicht für die Rückkehr zu einer Perspektive, die die Welt als Schöpfung betrachtet, nach dem Ende der religiösen Zeiten in Europa. Vielmehr stellt er fest, dass es eine universale Erfahrung von Menschen sei, „dass die Welt eine Schöpfung ist“. Diese Erfahrung geht für Strasser den verschiedenen Lehrgebäuden der Offenbarungsreligionen als etwas Primäres voraus, nämlich „innige Gefühle der inneren Verwandtschaft mit dem Ganzen, die unser Verhalten gegenüber einzelnen Lebensereignissen in das Licht einer Geborgenheit tauchen“.

Das scheint die eigentliche Pointe des Zugangs von Strasser zu sein: Der metaphysische Standpunkt, dass es mit der endlichen materiellen Wirklichkeit nicht abgetan ist, sondern wir Teil „eines vom Geist gefüllten Ganzen, einer ,Schöpfung‘“ sind, wird nicht als eine philosophische Position behauptet, die heute in verzweifelten Rückzugsgefechtenbegriffen ist, sondern als grundlegende und faktische menschliche Erfahrung.

Zu den Qualitäten des Buches gehören nicht nur die fachliche Genauigkeit, diekreative Sprachkraft, sondern auch die Fähigkeit, aus dem akademischen Gehege auszubrechen und zwischen klassischer Philosophie, zeitgenössischer Literatur, zwischen Boethius und Ian Fleming überraschend zu wechseln und dem Text immer wieder geistreiche Tupfer der Leichtigkeit zu geben.

Mit Sensibilität, Ironie und Selbstkritik entgeht Strasser vielfältig lauernden Fallen: dem Pathos philosophischer Metaphysik, einem Kreationismus ebenso wie einem rückwärtsgewandten Ressentiment eines„überalterten“ Zeitkritikers, der mit den beschleunigten globalen Entwicklungen nicht mehr mitkommt. Wenn Strasser zu Beginn seine besorgte Frage an einen Freund zitiert, ob er vielleicht schon zu viele Bücher produziere, über seine Verhältnisse schreibe, dann möchte man ihm zurufen: Von einer solchen „stillen Subversion“, die unserer fundamentalen Krise auf so anregende Weise auf den Grund geht, brauchen wir mehr! ■

Peter Strasser

Die Welt als Schöpfung betrachtet

Eine stille Subversion. 118 S., brosch., € 17,40 (Fink Verlag, Paderborn)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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