Eine tödliche Liebe

Es beginnt mit einer harmlosen Alter-Mann-trifft-junges-Mädchen-Geschichte, die sich am Rande eines Mordfalls entspinnt. Zülfü Livanelis Roman „Schwarze Liebe, Schwarzes Meer“ oder: Wenn man allein mit Büchern lebt.

Der Filmregisseur, Drehbuchautor, Komponist, Liedermacher und Verfasser von mehreren Romanen Zülfü Livaneli ist einer dervielseitigsten Künstler der Türkei und dazu noch in allen genannten Sparten erfolgreich. Politisch engagiert, wie er immer war und es auch geblieben ist, musste er Anfang der 1970er-Jahre seiner Haltung wegen ins Gefängnis und flüchtete danach für sieben Jahre ins westliche Ausland, aus dem er 1984 als anerkannter Künstler geradezu triumphal in sein Land zurückkehrte.

In seinen Romanen beschäftigt er sich vordringlich mit den unaufgearbeiteten Konflikten der türkischen Zeitgeschichte, wobei dem aufklärerischen Moment größte Bedeutung zugemessen wird, die dann von den verschiedenen Romanfiguren verkörpert und somit versinnlicht werden soll. Das wirkt manchmal erkennbar konstruiert und fordert Erklärungen, die vielleicht in einem Essay besser aufgehoben wären.

Was die Erzählweise angeht, scheut Zülfü Livaneli sich nicht, mit Mitteln des Kriminalromans Spannung zu erzeugen und Erwartungen zu schüren, die er dann zum Glück nicht immer erfüllt. Wäre ja auch schade um die ernsthaften Auseinandersetzungen, die von der Lage der Minderheiten (seien sie ethnischer Natur, seien sie auf die Geschlechter bezogen) bis hin zu den tiefen Gräben zwischen den Menschen seines Landes reichen. Sie sind nämlich nicht mit einemeinfachen Täter-Opfer-Genre zu lösen.

Militärputsch mit 5000 Toten

In einem Interview mit Spiegel Online sagte Livaneli 2014: „In den Siebzigerjahren gab es heftige Kämpfe zwischen Rechten und Linken, das Land war gespalten. 5000 Menschenwurden ermordet. Das Militär beendete die Gewalt mit einem Putsch. Nun haben wir wieder eine Polarisierung: Auf der einen Seitestehen die religiösen Kräfte, auf der anderen säkulare Nationalisten. Eine dritte große Kraftsind die Kurden. Es gibt eine emotionale Spaltung des Landes.“

Während es in dem 2002 erschienenen Roman „Glückseligkeit“ um das Thema Ehrenmord und in der 2013 auf Deutsch erschienenen „Serenade für Nadja“ um die verschwiegenen armenischen und tatarischen Wurzeln vieler Türken sowie um das grauenerregende Schicksal jener jüdischen Flüchtlinge ging, die in einem manövrierunfähigen Frachter namens Struma im Bosporus lagen, nicht an Land gehen durften und schließlich von einem russischen Kanonenboot im Schwarzen Meer versenkt wurden, machte Livaneli in seinem zuletzt auf Deutsch erschienenen Roman, „Schwarze Liebe, Schwarzes Meer“ (der Originaltitel hieße übersetzt „Die Geschichte meines Bruders“), die Liebe, besser gesagt die lebensgefährdende Liebe zum Thema.

Was sich lang als ziemlich harmlose „Old man meets young girl-Geschichte“ ausnimmt, die sich am Rande eines immer mehr aus dem Fokus geratenden Mordfalls entspinnt, entpuppt sich nach und nach als das Nicht-vergessen-Können einer männlichen Scheherezade, die versucht hat, sich in die Literatur zu retten, um die Folgen traumatischer Beschädigungen irgendwie ertragen zu können.

Dass das nicht ohne umfangreiche Hinweise auf die Weltliteratur abgeht, ist verständlich. Schließlich gehört die blutjunge, in dem Mordfall eine gute Story witternde Journalistin zur Generation Internet plus Fitnessstudio und ist, was Literatur angeht, ziemlich desinteressiert. Daher beschränkt sie sich bei der Lektüre der als Köder ausgelegten Klassiker wie „Madame Bovary“ oder „Anna Karenina“ auch auf die Inhaltsangaben auf ihrem iPad und findet das Ganze ziemlich antiquiert.

Ahmet Arslan, der ehemalige Bauingenieur, der sich schon vor Jahren in das Dorf am Schwarzen Meer zurückgezogen hat, in dem auch ein prominenter türkischer Maler samt seiner um vieles jüngeren Frau ein Refugium gefunden hat (Achtung: Hier geht es um Mord), verbittet sich jede Art von Berührung (infolge eines physischen Traumas) und lebt allein mit unzähligen Büchern. Wenn er nicht liest, schreibt er, wenn er weder liest noch schreibt, geht er mit seinem riesigen Hund namens Kerberos spazieren.

Für kurze Zeit gerät auch er unter Mordverdacht, was vor allem für die junge Journalistin von Interesse ist, doch stellt sich bald heraus, dass seine Täterschaft äußerst unwahrscheinlich ist. Im Gegenzug interessiert sich Ahmet immer mehr für die junge Frau. Nach anfänglichem, sich auf den Altersunterschied beziehendem Geplänkel beginnter, ihr von seinem Zwillingsbruder, Mehmet, zu erzählen, und von dessen Bekanntschaft mit ebenjener, von der jungen Frau nicht ernst genommenen lebensgefährdenden Liebe.

Erst da zeigt sich der Autor Livaneli von seiner gewohnten Seite mit dem Blick auf unhaltbare Zustände und politisch motivierte Katastrophen. Dass Ahmets und Mehmets Familie, als sie zwölf waren, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte lebenslange psychische Auswirkungen. Etwa, als Mehmet später im weißrussischen Borissow, wo er als Bauingenieur arbeitete (was nur wenigen Lesern bekannt sein dürfte: Dortwaren in den 1980er-Jahren, noch vor der Wende, viele türkische Bauunternehmen mit eigenem türkischen Personal in der Sowjetunion tätig), eine Russin kennenlernte, die, wie es auch andere sahen, von geradezu überirdischer Schönheit war.

Ihr Vater, ein ehemaliger Offizier der Roten Armee, hatte während des Afghanistan-Krieges einen Arm und ein Bein verloren und hauste nun mit seinen beiden Töchtern in einer heruntergekommenen Offizierssiedlung am Rande der Stadt, von wo die Töchter wegziehen mussten, nachdem der Vater gestorben war. Mehmet wollte Olga in die Türkei mitnehmen, doch beim Umsteigen in Sotschi wurde er festgenommen und wegen der Namensgleichheit für einen tschetschenischen Terroristen gehalten. Er wurde 18 Monate lang ohne Verhör unter unvorstellbaren Bedingungen eingesperrt, bis er durch die Intervention eines amerikanischen Mithäftlings freikam. Man hatte ihn einfach vergessen.

Der zeitgeschichtliche Aspekt bleibt in diesem Buch jedoch rudimentär, umso mehr rücken Identitätsprobleme, krankheitsbedingte Abstumpfung der Gefühle und ebenjene lebensgefährdende Liebe in den Vordergrund.

Bei einem Buch, das so sehr auf Suspense setzt, wäre es unfair, die Handlungsstränge bis zur Kenntlichkeit aufzudröseln. In all den Reflexionen über die Literatur ist bei Mehmet nie von der Sprache als Kunstwerk die Rede, eher von der Literatur als therapeutischem Mittel. Er behauptet, dass die Literatur wirklicher als die Wirklichkeit sei, nämlich insofern, als für ihn das Leben ein Roman und jeder Mensch daher eine Romanfigur wäre, und vermutet gleichzeitig, dass die Literatur wohl weniger auf dem Erzählen an sich beruhe denn auf dem Bemühen zu verstehen. Das Leben, erklärt er der jungen Frau, lasse sich einzig und allein über die Literatur begreifen. Es sei denn . . . Was dann passiert, wäre vorhersehbar, entzieht sich jedoch, nach dem Willen des Autors, allen Voraussagen. ■

Zülfü Livaneli

Schwarze Liebe, Schwarzes Meer

Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. 304 S., geb., € 20,50 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2016)

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