Das ungelebte Leben

Eine Lebens- und Schaffenskrise des britischen Schriftstellers E. M. Forster (1879 bis 1970) steht im Mittelpunkt von David Galguts Roman „Arktischer Sommer“. Zentrales Moment: Forsters über lange Zeit nicht gelebte Homosexualität. Ein innerer Thriller.

Es gibt Romane, von denen man sich nur schwer vorstellen kann, woraus sie entstanden sind. Sie scheinen aus der Zeit gefallen,einem Sujet verpflichtet, das abgekapselt, versponnen, verschroben um sich selbst kreist. Und doch geht mitunter gerade von solchen Texten etwas Zwingendes aus. Man will es zunächst nicht glauben, da man es auf Anhieb nicht benennen kann. Am Ende aber bleibt nicht nur ein eigentümlicher Nachhall des Gelesenen, sondern die fast somnambule Erkenntnis in eine ungewöhnliche Einsicht. Die Strahlkraft dieser Einsicht entfaltet sich in ihrer Vollendung erst im Nachhinein.

Damon Galguts Roman „Arktischer Sommer“ über die Lebens- und Schaffenskrise des britischen Schriftstellers Edward Morgan Forster (1879–1970) ist so ein Roman. E. M. Forster war 33 Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Indien reiste, um einen Freund aus Cambridger Studientagen zu besuchen. Syed Ross Masood, inzwischen in seine damals noch von den Briten besetzte Heimat zurückgekehrt, war Forsters heimliche große Liebe. Von Masood wurde die Freundschaft emotional hochfahrend, in der Geste überschwänglich, in der Stimmung begeistert auf fast klischeehaft orientalische Art erwidert.

Eine homoerotische Liebe wurde es nicht. Forster wusste das, als er nach Indien reiste. Dennoch hoffte er, wohl auch, weil er in eine fremde Weltgegend reiste, die Lage möge sich dort zu seinen Gunsten ändern. Das ist das Anfangsszenario von „Arktischer Sommer“. Galguts Roman verdankt seinen Titel einem gleichnamigen Fragment Forsters aus dem Jahr 1909. Der Entwurf war möglicherweise eine Reaktion auf den Suizid seines homosexuellen Freundes Ernest Merz. In Forsters „Artic Summer“ geht es um den Freitod eines jungen Mannes nach einem sexuellen „Vergehen“. Für den Schriftsteller, dessen heimliches Lebensthema die Liebe zum gleichen Geschlecht war, bedeuteten die Erfahrungen mit der britischen Gesellschaft und ihrer Strafgesetzgebung ein lebenslanges Trauma, das den ohnehin scheuen Mann in tiefe Konflikte trieb.

Galgut zeigt sich in seinem Forster-Roman als ebenso profunder Kenner der Quellen wie feinsinniger Gestalter nicht realer Ereignisse, die er minuziös von zugänglichemMaterial ableitet: Forsters Tagebüchern, Briefen, Romanen, ergänzt durch Schriften über ihn und mit ihm vertraute Zeitgenossen und Kollegen. Mitunter arbeitet Galgut Stellen von Forsters Roman „A Passage to India“ ein und zitiert in seiner Fiktion tatsächliche Dialoge, „die von Forster (oder anderen) in Briefen oder Tagebüchern festgehalten wurden, den Wortlaut bisweilen ein wenig“ verändernd, „in der Annahme, dass sich niemand mit völliger Gewissheit an ein Gespräch erinnert“.

Galgut entwirft damit ein Gewebe aus Fakten und Fiktion, in dem die Fiktion die Leerstellen im überlieferten Leben so füllt, als sei der Autor der Restaurator eines alten Stoffes. Der Vorteil eines solchen Vorgehens gegenüber der Biografie liegt in der Möglichkeit der Transzendenz. Statt die weißen Flecken der Biografie durch Vermutungen zu füllen, setzt Galgut die eigene künstlerische Projektion, und sie zeichnet ihn als Meister aus, als souveränen Autor und äußerst respektvollen Visionär.

Wegen Unzucht verhaftet

In Galguts Lesart der Krise, die Forster in den Jahren von 1912 bis zum Erscheinen von „A Passage to India“ durchlitten hat, klingen verschiedene Motive an, deren Verquickung das Buch so gegenwärtig macht, obwohl sein Protagonist verstorben, die Homosexualität in England legalisiert und die Kolonialzeit des britischen Empire längst beendet ist. Sicher ist das zentrale Moment der Krise Forsters der Lebenskonflikt: seine über lange Zeit nicht gelebte Homosexualität. In England bis in die späten 1960er-Jahre ein Straftatbestand, saß der Schock unter Schwulen, wenn wieder einmal jemand aus den eigenen Kreisen wegen Unzucht verhaftet wurde, tief. Forster fühlte sich von der ihn umgebenden gesellschaftlichen Situation so eingeschränkt, dass er kaum wagte, darüber heimlich zu schreiben. „Maurice“, 1970 posthum durch Lehmann und Isherwood lanciert, ist sein einziger unverschlüsselter Roman.

Die wirkliche Reise nach Indien im Jahr 1912 macht Galgut zu einer Reise, in der Forster sich selbst begegnet. In den fremden Gegenden hält er für möglich, was in vertrauter Umgebung undenkbar ist. Damit steuert Galgut bereits zu Beginn den Kern seiner Reflexion über die nicht zu beantwortenden Fragen des Lebens an: die Suche nach dem Weg der inneren Erlösung, die zur ewigen, unerlösten Wanderung zwischen den divergierenden – inneren wie äußeren – Weltgegenden wird. Forster konnte nicht wissen, dass er mit jedem mentalen wie geografischen Schritt in Richtung Orient nicht das gelobte Land erreichen, sondern in jene Sphären der Zweifel, der Skepsis, der Zerrissenheit eintreten würde, die nahezu jeden Wandernden zwischen verschiedenen Erdteilen für sich einnehmen, ob sie nun GertrudBell, Tanja Blixen, T. E. Lawrence oder Annemarie Schwarzenbach heißen.

Dabei ist allen, die sich Rechenschaft über ihre eigenen Motive abgelegt haben und legen, klar, dass die Reisen immer auch Fluchten in eine projizierte (nicht unbedingt wirkliche) Freiheit und bewegliche Ziele schwerer zu treffen sind. Es sind immer schon Außenseiter gewesen, egal, ob Männer oder Frauen, die seit ungefähr 300 Jahren ausgezogen sind, um das Fürchten zu lernen, heißt, sich selbst kennen. Am Ende von Galguts Roman wird der notorische Außenseiter E. M. Forster von seinem Bloomsbury-Freund Leonard Woolf, einem Gefährten seit den Tagen der Cambridge Apostles und alles andere als ein Mannaus dem bürgerlichen Lager, angeblafft: „Immer willst du abseitsstehen, dabei hast du mit genau denselben Problemen zu kämpfen wie jeder andere auch.“

Tatsächlich entwickelte Forsters Außenseitertum als Homosexueller durch die langenAufenthalte erst in Indien, später in Ägypten, eine besondere Qualität. Er wurde von diesen Sphären zwischen den Ländern infiziert, gleichsam zum Wissenden zwischen allen Fronten geschlagen. Seine unausgelebte Sexualität, die Sehnsucht nach Erfüllung, die Liebesprojektion wurde zum Leitbild in Gefilde, deren Nachhall er nicht auch nur im Ansatz geahnt hatte.

Schon auf der ersten Schiffsreise nach Indien im Jahr 1912 lässt Galgut seinen Protagonisten so etwas wie eine Initiation erleben. Bisher als heimlicher Schwuler schwärmend, macht Forster die Bekanntschaft des Offiziers Searight, der ebenso furchtlos wie stolz seinen sexuellen Appetit in den Mittelpunkt rückt. Forster ist verblüfft, beeindruckt und ohne Zweifel durch die erste Reise ohne seine Mutter in einer verführerisch unabhängigen Lage. Sein vierter Roman, „Howards End“, ließ ihn Ruhm und wirtschaftlichen Erfolg genießen und erlaubte ihm die Flucht aus dem viktorianischen England.

Anders als andere Cambridge Apostel (Roger Fry, Lytton Strachey) und Mitglieder der Bloomsbury Group war es Forster nie gelungen, eine Nische für seine sexuelle Präferenz zu finden. Dem Leben mit seiner Mutter und ihren penetranten Freundinnen, der drohenden Strafe für die Ausübung der Homosexualität, den Erwartungen der wohlsortierten britischen Kreise vermochte er sich nie zu entziehen. Und nun diese Reise, der Auftakt seiner jahrelangen Wanderungen mit dem Ziel der Erfüllung seiner Lust. Aber Forster floh nicht nur vor der britischen Gesellschaft, ihren Codes und ihren Gesetzen. Er floh auch die Schreibblockade, die ihn quälte, die Leere, die Depression, eine Art bizarrer Interessenlosigkeit dem eigenen Metier gegenüber, die fast zehn Jahre dauern sollte und erst durch die Bearbeitung des Stoffs besiegt wurde, der einmal „A Passage to India“ heißen und dem geliebten Masood gewidmet werden sollte und um dessen Vollendung Forster zehn Jahre zäh ringen wird: „Ich habe Wunder vollbracht. Ich habe Wasser in Wein verwandelt, ich habe Engel auf Nadelspitzen tanzen sehen.“

Ein unerfüllt schwuler, sich in seiner Selbstverleugnung der viktorianischen Prüderie und Strafgesetzgebung unterwerfender, nicht mehr ganz junger, unter einerSchreibblockade leidender Schriftsteller, ein überaus empfindsamer Mann, der sich nach Liebe und Berührung sehnt und bei aller schriftstellerischen Fantasie keine Fantasie entwickeln kann, die herrschenden Gesetze zu foppen, der stattdessen spitzfindige Liebesgeschichten heterosexueller Paare verfasst und sich von den dreisten Eskapaden seiner Bloomsbury-Freunde nicht einmal ansatzweise infizieren lässt: Warum sollte so ein Mann uns heute noch interessieren? Warum sollte uns sein mit Krisen, Selbstverleugnung, schwüler Gier und verkrüppelter Neigung verklebtes Dasein berühren, vielleicht sogar fesseln?

Da Galgut die Geschichte eines Mannes im Abgrund zwischen einander bekämpfenden Regionen erzählt, Regionen, die mit bestimmten – gerade auch sexuellen – Konnotationen aufgeladen waren. Obwohl sich die Konnotationen heute ebenso verändert haben wie die (staats-)rechtlichen Verhältnisse der Regionen, bekämpfen sie sich mehr denn je und (miss-)verstehen sich im selben Maß. (Homo-)Sexualität spielt darin auch heute noch eine entscheidende Rolle. Angesichts der vexierhaften Verhaltensweise seines indischen Geliebten, Masood, stellte sich Forster bei allem Unverständnis, in all seiner Sehnsucht zu verstehen, immer wieder dieselbe Frage: „Is the enigma him oder his nationality?“ Eine übergreifende Frage, die sich jeder stellt, der in Ländern lebt, deren Fremdheit ihn ebenso anzieht wie abstößt.

Triumph über eigene Ressentiments

Galgut verweist auf diese zentrale Frage aus Forsters Tagebuch, indem er in seinem Roman die Entstehungsgeschichte von „ A Passage to India“ wie einen inneren Kriminalroman erzählt. „A Passage to India“ ist die Geschichte eines schrecklichen Konflikts, einer Enttäuschung, eines Kampfs gegen diese Enttäuschung und darüber, dass das einsichtige Selbst triumphiert. Dass es Galgut einzig um den an seiner Liebessehnsucht kränkelnden Romancier zu gehen scheint und er dochmit seinem Porträt des Meisters in seiner unglücklichsten Zeit mitten ins Herz unserer brennenden Gegenwart sticht, mag nicht einmal beabsichtigt sein. Aber indem Galgut vondem Triumph eines unermüdlichen Sehers über seine eigenen Ressentiments erzählt, eines Reisenden, der nirgendwohin gehört, der am eigenen Leib im wahren Wortsinn schließlich die unüberbrückbaren Unterschiede der so fremden Regionen erfährt undsie in einer künstlerischen Arbeit überwindet,weist er einen Weg.

Auch wenn es am Ende des Romans keinewahrhaftige Innigkeit, kein wirkliches Verstehen, keine Symbiose gibt, weder jene mit dem Geliebten noch jene unter den streitenden Regionen, so kämpft Forster bis zu seinem Tod unermüdlich für das, was er Gleichberechtigung auf allen Ebenen nennt. Immer wieder wird in seinen Schriften wie auch in Galguts Roman die Ferne gerade durch die Nähe schmerzhaft deutlich. Das ist es, was Forster erfahren hat, das ist es, was „A Passage to India“ vermittelt, das ist die Präsenz der politischen Gegenwart in diesem so intimen Buch. Die nicht zu erfüllende Sehnsucht des Einzelnen nach Symbiose und die der vielen nach dem Zusammenwachsen der Welt sind nicht herbeizuschreiben. Aber die unermüdliche Arbeit an sich selbst. Das ist das große, feine Verdienst von Galguts Roman „Arktischer Sommer“. ■

Damon Galgut

Arktischer Sommer

Roman. Aus dem Englischen von Thomas Mohr. 384 S., geb., € 20,60 (Manhattan Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2016)

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