Den Wörtern kündigen

Ein 72-jähriger Mann meldet sich in einem Online-Suizid-Forum an. Nach dem Verrat seines Freundes denkt er, nicht mehr weiterleben zu können. Martin Walsers spielerischer Roman „Ein sterbender Mann“.

Sterben ist eine ernste Sache. Insbesondere dann, wenn man vorhat, den Tod eigenhändig herbeizuführen. Die Annahme, dass jemand seinem Leben ein Ende setzen möchte, liegt nahe, wenn sich der Betreffende, wie der Antiheld Theo Schadt in Martin Walsers neuem Roman, bei einem Online-Suizid-Forum anmeldet. Der „sterbende Mann“, vom dem hier die Rede ist, zeigt sich überzeugt, einen triftigen Grund dafür zu haben: Und der heißt Verrat. „Wenn das menschenmöglich ist, dann will ich, kann ich kein Mensch mehr sein.“

Worin der Verrat eigentlich bestanden hat, erfährt man allerdings bis zum Schluss nicht. Offenkundig ist, dass Theo Schadt von seinem langjährigen Freund Carlos Kroll um seine Firma gebracht wurde, aber wie und warum das eine so (griechische) Tragödie ist, die zwingend den Tod nach sich ziehen muss, wird nirgends nachvollziehbar erläutert. Das verleiht dem Buch einen gewissen Unernst, der wohl beabsichtigt ist, wenn manSeite für Seite miterlebt, wie quicklebendig sich Theo Schadt ins Sterben einübt.

„Mehr als schön ist nichts.“ Mit diesem unklaren Satz, den Theo Schadt einem Schriftsteller, der ihn formuliert haben soll, brieflich zurückwirft, setzt der Roman ein. „Wer oder was nicht schön ist, ist nichts. Ich bin also nichts“, zeigt sich Theo Schadt empört. Er beharrt trotz seiner Unscheinbarkeit darauf, etwas zu sein, wenn auch nicht schön. Im Grunde, so der Eindruck, den er hinterlässt, dient ihm der Satz aber nur als Ventil, Dampf abzulassen und den Verrat zu verarbeiten. Nach einem Selbstmörder hört sich das nicht an.

Martin Walser will also nur spielen. Nichtals Selbstzweck allerdings, sondern, weil ihm in seinem fortgeschrittenen Alter die Literatur selbst offenbar als Spiel vorkommt. Theo Schadt bezeichnet den Satz des Schriftstellers jedenfalls als Maske. „Allerdings eine, in der das wahre Gesicht, das sie verbirgt, schon fast spürbar wird.“ Martin Walsers Definition der Literatur? Denn ums Schreiben, und welche Funktion es im Lebenhat, darum geht es in diesem Buch. Unter anderem.

Dazu muss man wissen, dass der unscheinbare Theo Schadt, der im Leben immer mitgeschwommen ist, der ursprünglich Techniker war, eine Firma gegründet hat, die technische Patente entwickelt, von Felix Kroll aber dazu gebracht wurde, sich der Medizin, genauer der Kosmetik, zuzuwenden, und zur ersten Adresse für kosmetische Patente wurde. Da das so gut lief, fing Theo an, Bücher zu schreiben, genauer Ratgeber, insbesondere eine Reihe mit Anleitungen. Mit Ausnahme des Bandes „Schwindelfrei. Anleitung zum Selberdenken“ alles Bestseller. Ironie à la Martin Walser.

Carlos Kroll hingegen schreibt Gedichte. Existenzielle, dialektische Gedichte, wie man vorgeführt bekommt: „Lass mich doch bitte gehen, wohin ich nicht will.“ Oder: „Eingesperrt in etwas, bin ich sicher vor nichts.“ Verse der Selbstvernichtung, oder wie der Laudator bei einer Preisverleihung sagt: „Weil die Uneinverstandenheit mit sich selbst sowohl schnell hingesagtes Aperçu sei wie richtiges, anspruchsvolles Gedicht, deshalb müsse man diese Versuche der Selbstablehnung ein Lebensthema dieses Dichters nennen.“ Unverkennbar: Martin Walser macht sich über den „Tiefsinn“ im deutschen Feuilleton lustig. Er schuf die Antagonisten Theo Schadt und Carlos Kroll, um die urdeutsche Trennung von U und E vor dem Angesicht des Todes zu hinterfragen. Schadt, der Biedermann, nimmt das Leben todernst, die Kunst jedoch als Verschönerung ebendieses. Für seinen Widerpart Kroll hingegen, dem „Evangelisten der Lieblosigkeit“, zählt nur seine Kunst als das wahre Leben, das Leben (der anderen) dient nur der Bewunderung seiner Kunst. Nach der Preisverleihung erzählt seine Frau, Iris, Theo Schadt, dass ein Konsul beim Nachtisch angemerkt habe, dass das Sorbet angeblich von Nero erfunden worden sei. Der Tyrann, der Rom abgefackelt hat, als genialer Künstler.

An dieser Stelle kippt der Roman ganz in eine Satire auf den deutschen Kunstbetrieb und seine Apologie auf die Unverständlichkeit. Oder, mit Carlos Kroll gesprochen, „dass es die Qualität der Sprache sei, unverständlich zu sein“. Dabei zieht Walser sämtliche Register postmoderner Verrätselungen wie Gattungsmixturen und Multiperspektivität. Einmal schreibt Theo Schadt als Ich-Erzähler, dann schaltet sich ein auktorialer Erzähler ein, zum Teil ist das Buch Briefroman, in dem Theo Schadt einerseits dem Schriftsteller seine Geschichte erzählt, andererseits im Online-Forum als Nickname Franz von M. (Moor, nach Schillers „Räuber“) wählt. Weitere literarische Anspielungen an die Klassik betreffen Kleist und seine Geschichte „Der Findling“. Auf dieser Site des Suizid-Forums tauscht sich Schadt dann mit einer gewissen Aster aus, die im wirklichen Leben Sina heißt. Sie ist, wie könnte es bei Walser anders sein, die Frau, in die sich Theo Schadt schreibend verliebt und „vor der sich jedes Rätsel schämt und sich dann willenlos preisgibt“.

Preisgegeben werden die diversen Figuren des Romans, und wie sie miteinander in Verbindung stehen, erst allmählich. Damit steigern sich auch die Unwahrscheinlichkeiten. Doch auch das scheint Absicht zu sein. „Dass man nicht müde wird, Spielarten zu erfinden, um nicht auf die simple eigene, widerliche Subjektivität angewiesen zu sein, das weiß ich zu schätzen“, lässt Sina Theo wissen. Und darum scheint's Martin Walser zu gehen: ein radikales und zugleich spielerisches Infragestellen des (heutigen) Lebens und Schreibens. Gegen Ende schreibt Theo Schadt seiner Tochter: „Den Wörtern kündige ich. Sie haben nicht geholfen.“

Als Lebensbilanz eines Autors wäre eine solche Erkenntnis bitter. Als „Wortspiel“, das Martin Walser hier betreibt, muss man sie nicht ganz ernst nehmen und darf getrost auf weitere Bücher des letzten der großen alten Schriftsteller Deutschlands hoffen. ■

Martin Walser

Ein sterbender Mann

Roman. 288 S. geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.