Ein Land ohne Länder?

Thomas Winkelbauer hat für seine „Geschichte Österreichs“ ein prominentes Historiker-Team zusammengestellt. Im Gegensatz zum geplanten „Haus der Geschichte“, das eher willkürlich mit 1848 beginnen soll, setzt seine kompakte Historie in der Zeit der Völkerwanderung an.

Der Gesetzesentwurf für das Wiener Haus der Geschichte Österreichs ist in Begutachtung gegangen, mit bemerkenswert kurzer Frist für ein Projekt, das von der Regierung mit 40Millionen Euro Errichtungskosten und 3,6 Millionen jährlichen Betriebskosten beziffert und inklusive Nebenkosten, wie Auslagerung der Sammlung alter Musikinstrumente, Errichtung eines Tiefspeichers und Sanierung des Äußeren Burgtors, wohl rund 120 Millionen erreichen wird. Das neue Haus soll die Zeitgeschichte Österreichs ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit besonderem Schwerpunkt auf die Zeit von 1918 bis in die Gegenwart vermitteln. Diese zeitliche Verkürzung war für Thomas Winkelbauer, Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien, ein Grund, eine kompakte einbändige Geschichte Österreichs zu konzipieren, und zwar von Anfang an, nicht eine „amputierte“, sondern die „ganze Geschichte“.

Wie weit erstreckt sich die Geschichte Österreichs, räumlich wie zeitlich? Beginnt sie erst 1918, mit der Gründung der heutigen Republik? Oder 1848, wie es der Gesetzesentwurf favorisiert? Warum eigentlich 1848? Wegen Kaiser Franz Joseph? Wegen der missglückten Revolution? Warum nicht 1804, mit der Gründung des Kaisertums Österreich? Oder mit der Machtergreifung der Habsburger 1278/82 in Österreich, oder doch 996 mit der ominösen ersten Erwähnung des Namens Österreich? Thomas Winkelbauer entscheidet sich mit gutem Grund für die Römer- und Völkerwanderungszeit.

Winkelbauer hat ein prominentes Team zusammengestellt: Mit Brigitte Mazohl, der Präsidentin der Philosophisch-Historischen Klasse an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hat er eine Frau an Bord, die als Tirolerin auch eine Vertreterin der Bundesländer darstellt. Mit Walter Pohl, Christian Lackner und dem Herausgeber ist das Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung höchst ansehnlich vertreten. Durchaus logisch erscheint es auch, Oliver Rathkolb als den vom Kulturminister eingesetzten Projektverantwortlichen für das geplante Haus der Geschichte und Vorsitzenden des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte Österreichs ins Team zu nehmen.

Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich ausgefallen: Walter Pohl gibt eine beeindruckende Analyse der Ethnogenese der heutigen österreichischen Mehrheitsbevölkerung in Römerzeit und Frühmittelalter. Christian Lackner schreibt die Geschichte des ostalpinen Raums im Hoch- und Spätmittelalter, die fast bei jedem Land, das sich gebildet hat, anders, keineswegs zeitlich synchron verlaufen ist. Die traditionell bevorzugte Aufmerksamkeit der österreichischen Geschichtsforschung ist auf die im letzten Drittel des zehnten Jahrhunderts eingerichtete bayerische Mark an der Donau fokussiert. Für Lackner ist das eine anachronistische Sicht. Viel wichtiger ist für ihn die Entwicklung über den Alpenhauptkamm hinweg in den Süden und Südosten. Sind es bei Pohl die sich bildenden Ethnien, so bei Lackner die entstehenden Länder. Mit der zunehmenden Macht der österreichischen Landesfürsten weitet sich der Blick. Während Winkelbauer, unterstützt durch seine Tschechischkenntnisse, für die Epoche von 1519 bis 1740 geschickt den Raum der böhmischen Länder einbindet, ist der Blick der geborenen Südtirolerin Mazohl stärker nach Süden gerichtet. Sie zeichnet ein prägnantes Bild der Stärken und Schwächen der Habsburgermonarchie bis zu ihrem Ende im Jahr 1918.

Geschichte aus Wiener Perspektive

Während die Geschichte Österreichs bis 1918als Geschichte der Länder und Regionen dargestellt wird, verschwinden die Länder bei Oliver Rathkolb aus dem Blickfeld. Er liefert eine Geschichtsdarstellung ganz aus Wiener und zudem ganz aus sozialdemokratischer Perspektive. In einem Interview hat Rathkolb zwar versichert, „es wird keine politische Farbenlehre geben, sondern eine solide wissenschaftliche Basis“. „Die Farbenlehre beginnt weit vorher“, meinte daraufhin Gottfried Fliedl, „nämlich mit dem Entschluss eines sozialdemokratischen Ministers, ein Museum zu gründen und einen sozialdemokratisch sozialisierten Historiker zum Leiter des planenden Beirats zu machen.“

Die Rolle der Länder kommt bei Rathkolb weder bei der Staatsgründung 1918 und ihren Beitrittserklärungen und Austrittsbestrebungen nach 1918 noch bei den Länderkonferenzen 1945 vor. Er teilt die Geschichte der Republik in zwei Perioden. Die erste, betitelt mit „Erste Republik, Austrofaschismus und Nationalsozialismus“, lässt er von 1918 bis 1945 reichen, die zweite, simpel „Die Zweite Republik“, von 1945 bis zur Gegenwart. Austrofaschismus und Nationalsozialismus unterscheiden sich bei ihm nicht und gehen ineinander über. Seipel ist für ihn ein Semifaschist. Dass Dollfuß ein Faschist ist, ist ihm ohnehin unumstritten. Da kommt selbst Starhemberg besser weg: Diesem sei es 1930 gelungen, die militanten Flügel der Heimwehr unter Steidle und Raab auszumanövrieren. Neuere Forschungen zum Bürgerkrieg und zum Juliputsch 1934, etwa Ernst Hanischs oder Kurt Bauers, nimmt er nicht zur Kenntnis.

Für die NS-Zeit vermittelt Rathkolb ein Bild, als seien zwischen 1938 und 1945 alle Entscheidungen in Wien statt in Berlin gefällt worden, selbst jene für die Errichtung des Konzentrationslagers in Mauthausen. Er konstruiert statt des bisherigen Opfermythos einen Tätermythos. Er erwähnt weder den massiven Raub an den österreichischen Gold- und Devisenreserven und die massive „Germanisierung“ von Banken und Industrie noch die totalitäre Hierarchisierung von Partei, Verwaltung und Justiz von Berlin aus. Selbst die Wehrmacht präsentiert er als österreichisch dominiert, wenn er als einziges Beispiel zwei Infanteriedivisionen auf dem Balkan herausgreift, bei denen 51 Prozent der Offiziere und 62 Prozent der Mannschaften aus Österreich gestammt hätten.

Während die Zwischenkriegszeit wohl weiter Anlass für Diskussionen geben wird, ist Rathkolbs Darstellung der Nachkriegszeit farbenblind beziehungsweise stark rotstichig. Karl Renner wird zwar heftig und zu Recht ob seiner Anschlussbefürwortung und seiner antisemitischen Äußerungen im Jahr 1945 kritisiert („ein plötzliches Zurückfluten der Vertriebenen sei zu verhüten“). Er bleibt für Rathkolb dennoch der gefeierte zweimalige Republikgründer. Für Figl hingegen hat er nur zwei abschätzige Zeilen übrig: dass er gegenüber den Amerikanern Kunschaks Antisemitismus entschuldigt und kleingeredet habe und dass er sich als „lebenslustiger und erdverbundener Österreicher im ,Kampf‘ gegen die alliierten Besatzer“ hervorgetan habe. Raab erhält alles zusammen weniger als zehn Zeilen zugebilligt. Seine „realpolitischen Verdienste“ seien zwar „höher einzustufen als die Figls“, aber was diese Verdienste seien, wird verschwiegen. Die Stabilisierung von Währung und Finanzen im Raab-Kamitz-Kurs wird völlig übergangen. Raabs Rolle beim Staatsvertrag wird auf „österreichische Entscheidungsträger um Raab herum“ anonymisiert.

Werden die ÖVP-Kanzler mit jeweils wenigen Zeilen abgetan, so bekommt Kreisky mehr als 16 Seiten Raum. Nun hat Kreisky zweifellos seine Verdienste. Aber Schattenseiten werden einfach beiseitegeschoben. Rathkolb kritisiert, dass im Gedächtnis der Österreicher nur die Budgetdefizite während der Kreisky-Regierung haften geblieben seien, während sich aus internationaler Sicht gleichzeitig ein „industriepolitisches Wunder“entwickelt habe. Den Beweis für diese Behauptung, die im Kontext der in den 1980er-Jahren hervorbrechenden Krisen recht gewagt ist, bleibt er schuldig. Er zieht sich in einer für einen Historiker recht uneleganten Weise aus der Affäre: Ob die Politik der Regierung Kreisky für die Verstaatlichtenkrise verantwortlich gemacht werden könne, werde erst eine quellenorientierte Geschichtsschreibung zu analysieren haben.

Überaus positive Aufmerksamkeit kriegt Thomas Klestil, Waldheim hingegen die obligaten Prügel. Schüssel habe für „seinen Tabubruch“ einen hohen Preis bezahlt, Sinowatz sei verkannt und Gusenbauer an seiner eigenen Intellektualität gescheitert. Kreiskys Minister Bielka, Blecha, Broda und Firnberg ernten alle Lob. Androsch hingegen wird nicht einmal erwähnt. Außer Kreisky, Vranitzky sowie punktuell Renner und dem amtierenden Kanzler Faymann seien „alle Bundeskanzler der Zweiten Republik im internationalen Diskurs nicht mehr präsent“, so Rathkolbs apodiktisches Resümee. „Waren in den 1980er-Jahren manche Budgetdefizite zu hoch, so sind sie seit 2000 zu niedrig und behindern letztlich eine innovative Vorwärtsentwicklung“, meint er launig an anderer Stelle. Rathkolbs überschwängliches Lob für Faymanns Beschäftigungspolitik ist angesichts der inzwischen höchsten Arbeitslosenraten der Zweiten Republik Makulatur.

Die Einseitigkeit setzt sich auch in den Lektüreempfehlungen fort: Ernst Hanischs „Österreichische Geschichte im 20. Jahrhundert“ scheint in der zur Ersten und Zweiten Republik beigefügten Leseliste nicht auf, auchnicht dessen großes Buch über Otto Bauer. Dass Wilhelm Brauneders Studie zu 1918 oder Lothar Höbelts Veröffentlichungen zum Dritten Lager fehlen, überrascht angesichts deren FPÖ-Nähe ja nicht. Aber dass auch die vielbändige Reihe der Salzburger Haslauer-Stiftung zur Geschichte der Bundesländer seit 1945 fehlt, schon mehr.

Neben der parteipolitischen Schlagseite stören zahlreiche sachliche Fehler, etwa die Umrechnungen von Schilling auf Euro, wo vergessen wird, durch 13,76 zu dividieren, oder, dass statt der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern die Industriellenvereinigung als eines der vier quasiinstitutionellen Mitglieder der Sozialpartnerschaft und auch des 1950 geplanten Wirtschaftsdirektoriums vermutet wird. Auch dass im Jahr 1917 (!) nur 100 von 310 Lehrstellensuchenden eine Stelle erhalten hätten, im Jahr 1937 dann 100 von 383, ist eine ziemlich unsinnige Aussage.

Frauen kommen hier nicht vor

Die Wirtschaft besteht für Rathkolb praktisch ausschließlich aus der verstaatlichten Industrie. Die übrige Industrie, das Gewerbe, die Landwirtschaft, der Handel, die Dienstleitungen und die dramatischen Veränderungen in diesen Sektoren werden nicht berührt. Vergeblich sucht man nach der Hyperinflation oder dem Zusammenbruch der Credit-Anstalt, dem Schicksal der verstaatlichten Banken beziehungsweise der Bank Austria, der Pensionsproblematik oder der zunehmenden Staatsquote und Steuerbelastung.

Auch die Frauen kommen nicht vor. Es wird zwar viel gegendert, aber auf recht widersprüchliche Weise: einerseits „Juden und Jüdinnen“, „Österreicher und Österreicherinnen“, dann wieder „Staatsbürger/innen“ oder „Einwohner/inne/n“. Nicht gegendert werden hingegen Nationalsozialisten, Pflichtschullehrer, Widerstandskämpfer, Selbstmörder, Erstwähler und andere. In Wahrheit ist dieses Gendern ohnehin nur Kulisse. Es gibt nicht nur kein Frauenkapitel, man erfährt auch nicht, wie viele von den ermordeten, vertriebenen Juden jeweils weiblich waren, auch nicht, wie viele von den „Zwangsarbeiter/inne/n“, außerdem nichts über ledige Mütter, uneheliche Kinder, nichts über Mägde und Dienstmädchen.

Rathkolb hat 120Seiten der 600Seiten des Buches zur Verfügung. Aber er nutzt den Platz nicht wirklich. Die Ereignisse in Schattendorf 1927 erhält man gleich dreimal referiert. Dass über 65.000 Jüdinnen und Juden in Konzentrationslagern und in Gestapo-Haft ums Leben gekommen sind und rund 150.000 die Flucht gelungen ist, ist sogar vier Mal zu lesen. Viel zu viel Raum wird durch eine Vielzahl derartiger Redundanzen verschwendet. Also viel zu tun, um das alles in einem Haus der Geschichte zu sanieren. ■

Thomas Winkelbauer (Hrsg.)

Geschichte Österreichs

648 S., neun Karten, geb., € 39,90 (Reclam Verlag, Ditzingen)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)

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