Nur wer etwas wagt, der lebt

Im multiperspektivischen Roman „In der freien Welt“ versucht der Erzähler, Näheres über den Tod seines jüdischen Freundes John in Erfahrung zu bringen. Indem er drei schicksalhaft aufeinander bezogene Welten entfaltet, betritt Norbert Gstrein erzählerisch zum wiederholten Mal historisch vermintes Terrain.

Wo nur sind sie geblieben, die Utopien mit Augenmaß, diese Enzyme einer humanen Politik? Eine solche lautete im September 1988: „Meine Vision ist ein palästinensischer Staat, Seite an Seite mit Israel, mit internationalen Sicherheitsgarantien für beide Völker und ohne Mauer zwischen den beiden Staaten, mit möglichst regem Austausch von ökonomischen Gütern, Ideen, Kultur, Sport, mit gemeinsamen Universitäten.“ Gewagt hat sie der israelische Schriftsteller David Grossman, der in seinem frühen Roman „Das Lächeln des Lammes“ (1983) von der Freundschaft zwischen Chilmi, einem alten Palästinenser, und Uri, einem israelischen Offizier, erzählt. Bezeichnend, dass hierbei gerade Bücher eine symbolische Rolle spielen: Während des Bürgerkriegs in Palästina 1947/48 wurden Tausende arabische Bücher aus verlassenen Häusern und Kultureinrichtungen von jüdischen Soldaten der späteren Nationalbibliothek Israels in Jerusalem zugeführt. Dort warten sie darauf, dereinst den palästinensischen Behörden im Rahmen eines Kulturabkommens zurückgegeben zu werden.

Man muss schon einen Autor vom Range Grossmans heranziehen, um Norbert Gstrein und seinem differenziert erzählten Roman mit dem scheinnaiven Titel „In der freien Welt“ annähernd gerecht zu werden. Rezensieren heißt zunächst einmal: würdigen, hier die Leistung, drei schicksalhaft aufeinander bezogene Welten zu entfalten. Diese „Bezogenheit“ stellt sich durch einen Stoff dar, der unvermindert brisant ist: Aus österreichisch-deutscher Perspektive – wenn es je eine moralische Verantwortungsgemeinschaft gegeben hat, dann diese! – versucht der Erzähler namens Hugo den Hintergründen der Ermordung seines Freundes John(athan), eines jüdischen Amerikaners, in San Francisco nachzugehen. Das führt ihn nicht nur zurücknach Kalifornien, sondern wiederholt auch nach Israel und in den Gazastreifen sowie ins Salzkammergut, nach Gmunden. Gstrein ist ein Meister des multiperspektivischen Erzählens, der mit Mutmaßungen, Ahnungen und in die Irre führenden Spuren wirkungsvoll zu arbeiten versteht.

Kalifornien, Israel, Gmunden

Hugo, ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller, führt sich als „Beobachter, Zeuge und Bewunderer“ seines Freundes ein, Sohn einer Überlebenden der Shoa, mit zionistischer Gesinnung (er leistete als Freiwilliger Dienst in der israelischen Armee und nahm am ersten Libanon-Krieg teil), ein Lyriker und bildender Künstler (eines seiner Gemälde trägt den bezeichnenden Titel „Self-Portrait As a Hated Jew“), ein Alkoholiker, der mehrfach am Leben zu scheitern drohte. Seine Tochter Zoë lebt in Israel mit ihrer von John getrennten Mutter, die jeden Kontakt mit ihm verweigert. Wir begegnen Johns diversen Freundinnen: von der attraktiven Dänin bis zur sozial derangierten Pornodarstellerin und einer exaltierten Gmundnerin aus gehobenen Kreisen namens Cecilie, von einer Tochter aus reichem kalifornischen Hause bis zur Intellektuellen, was schablonenhafter klingt als die Art, in der Gstreins Roman diese Frauen präsentiert.

John, der Frauenheld mit verzweifelten Machoallüren, hat einen Bruder in New York, der sich auf seine ausgeprägt materialistische Weise um die Verlassenschaften kümmern wird, und eine etwas penetrante Schwägerin. Zum San-Francisco-Set-up gehört noch Elaine, die mit dezidierten Meinungen in Erscheinung tritt und in Hugo einen Verbündeten, aber auch Konkurrentenin Sachen Bescheidwissen über John sieht. Zurück in Österreich wäre ähnlich meinungsstark noch Christine zu nennen, eine Vertraute Hugos, die zu ihrem Leidwesen Schriftstellervorlässe betreut und keine Möglichkeit auslässt, diese Praktik als Unwesen zu geißeln. In Tel Aviv lebt Hugos israelkritischer Freund Roy Isacowitz und jenseits der Mauerder palästinensische Schriftsteller Marwan sowie seine Schwester Naima.

Von ihr abgesehen hatten alle persönlichen Kontakt mit John. Alle wissen etwas über ihn, aber über den Mord an ihm können sie nur Vermutungen anstellen. Marwan bestritt mit John in Gmunden eine gemeinsame Lesung über den israelisch-palästinensischen Konflikt, wobei er sich Primo Levis These zu eigen machte: dass die Palästinenser die Juden der Israelis seien; daraus ging zunächst der Plan eines gemeinsam zu verfassenden Buchs hervor, das die fesche Gmundnerin sogar zu finanzieren gedachte. Doch der Plan zerschlägt sich ebenso, wie Hugos Untersuchungen im Sande verlaufen. Am Ende beschließt er, statt einer Biografie seines Freundes diesen Bericht seiner Untersuchungen, ebendiesen Roman, zu schreiben. Zurück in Israel radikalisiert sich Marwan, verschwindet im Untergrund, wird gefangen genommen und übersetzt Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ in einemisraelischen Gefängnis ins Arabische, derweilseine Schwester versucht, Hugo von der Sache der Palästinenser zu überzeugen.

So behutsam Hugo bei allem vorgeht, etwa, was Schuldzuweisungen betrifft, so beherzt verhält er sich bei seiner Recherche insbesondere auf dem Gebiet der Palästinenser, im Niemandsland oder auf den dunklen Straßen von San Francisco, und lebte damit ebenso „gefährlich“ im Sinne Nietzsches wie sein Freund John, dem er insgeheim auch nacheifern möchte. Denn nur wer etwas wagt, der lebt.

Unerbittlich rechnet Hugo mit den Praktiken des österreichischen Kulturbetriebs ab. Man möchte, so der Erzähler, die Gäste aus aller Welt mit Mehlspeisen- und Landschaftsseligkeit beglücken, damit diese die dunklen Hintergründe dieser Kultur vergessen sollen. Mit schärfster Kritik an journalistischen Praktiken spart Hugo gleichfalls nicht. Rein erzählerisch ist denn auch die Begegnung Hugos mit dem Kritiker Atzwanger in Venedig, einer „Thomas-Bernhard- oder Doderer-Figur“, zu Beginn des dritten Teils ein Höhepunkt. Der Erzähler verrät dem Kritiker, dass er über John, einen „Juden mit Waffen“, schreiben wolle, was dieser in einem zweiseitigen Porträt über Hugo, das im „Spectrum“ der „Presse“ erscheinen wird, zur provokativen Formulierung „ein Jude als Täter“ ummünzt. Dies führt zu vernichtenden Attacken auf Hugo, die sich der „Standard“ zu eigen macht. Hugos Ruf scheint ruiniert. Desavouiert sieht sich jedoch dadurch der Sensationsjournalismus.

Keine Aufregung: So einen Artikel gab es im realen „Spectrum“ nie; und der „Standard“ ist ebenso wenig der „Standard“ wie Hugo sein Urheber Gstrein, ganz zu schweigen von der Kulturdezernentin in Bad Ischl, die im Roman gern ihre Gastautoren unter vollem Körpereinsatz umarmt und abküsst.

Wie schon im Roman „Eine Ahnung vom Anfang“ (2013) befragt Gstreins große Erzählung das Problem des religiös oder politisch motivierten Fanatismus, wobei die Grundfrage offenbleiben muss, ob deutschsprachige Beobachter der politischen Szene lauthals Kritik an Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern üben können. Man will ja die trostlosen Zustände, unter denen viele Palästinenser zu leben haben, beklagen, ebenso das wahnverblendete radikalislamistische Dogma, das die Vernichtung Israels vorsieht, aber man spürt, sich hierbei zurückhalten zu müssen, deutschsprachig, wie man ist; oder man begibt sich zur Gewissenserleichterung gleich zum Arbeitseinsatz in den Kibbuz, demonstrativ philosemitisch gestimmt.

Solidarität mit Israel um jeden Preis? Wann wird daraus eine Pflichtübung? Wann verkehrt sie sich ins Gegenteil? Was an Wagemut aufzubringen ist, um dieses historisch verminte Terrain erzählerisch zu betreten, wie in diesem Roman geschehen, bedarf keiner Erläuterung. Gstreins Erzähler, Hugo, hat es gewagt, und das mit bewundernswertem Takt und Reflexionsvermögen. Der Autor selbst hat dieses Gebiet bereits gültig vermessen, und zwar in seiner Rede über „Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema“ (1999) und in seinem Essay „Wem gehört eine Geschichte?“. Gerade das erzählende Vorführen des Tastens, des Unschlüssig-Seins über das, was vertretbar ist und was nicht, verrät das Bedeutende in der Kunst Norbert Gstreins.

Himmel und Hölle eng beieinander

Das erzählerische Verfahren schließt hier diewiederholte Rückblende auf schon Gesagtes ein; es geht dem Erzähler um die Möglichkeit, Bekanntes anders zu beleuchten, Thesenhaftes erneut zu befragen. Für ihn liegen in Amerika ebenso wie im Nahen Osten „Himmel und Hölle direkt nebeneinander“. John fragt: „Nichts tun, was in der Welt auch nur die geringsten Auswirkungen hätte, und dann stolz sein, wenigstens nichts falsch gemacht zu haben. Ist das nicht erbärmlich, Hugo? Das moralischste Leben wäre demnach eines, das erst gar nicht gelebt würde.“ So entschieden das klingt, John hat selbst Probleme mit dieser These, denn: „Er wollte noch einmal von vorn anfangen, sich neu erfinden, und genau genommen wollte er nichtnur, er musste, nach seinen Erlebnissen als Soldat in der Westbank und im Gazastreifen, die ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatten.“

Alle diese Erzählfiguren leiden an Rechtfertigungsnot, zweifeln an sich selbst und ihrem psychischen Vermögen, mit den Lasten der Geschichte und der Gegenwart fertigzuwerden. Hugo muss sich eingestehen: „Es wardoch nicht so einfach, wie ich mir eingeredet hatte, an einem Abend in Tel Aviv bei einer jüdischen Familie zum Seder zu gehen, von ihr mit der größten Herzlichkeit aufgenommen zu werden und am Tag darauf mit unklaren Absichten nach Hebron zu fahren und sich die Sorgen und Befürchtungen der Gegenseite anzuhören.“ Hugo weiß auch: „Das Erzählen rundete die Wirklichkeit ab und verfehlte sie mit seinen Abrundungen.“

Zum Wagnis dieses Stoffes gehört es, das Widersprüchliche zu entfalten, ebenso wie die eigene Unsicherheit in der Herangehensweise aufzuzeigen. An einer Stelle aber gilt es, dem Erzähler entschieden zu widersprechen. Als er das Gmundner Projekt, John undMarwan ein gemeinsames Buch „über den Konflikt im Nahen Osten“ schreiben zu lassen, kommentiert, versteigt er sich zu folgendem Vergleich: „Für mich war das der reinsteKindergarten. Ich halte nicht viel von diesen Aktionen à la Barenboim, und wie sie sonst noch heißen, wo für den Frieden zusammen fröhlich musiziert, gesungen und ich weiß nicht was noch alles wird. Immer wenn ich ein solches Orchester im Fernsehen sehe, fühle ich mich gleich betrogen wie beim Weihnachtsprogramm, oder wie wenn jemand versucht, mich durch den Auftritt von Katzen oder Hunden zu rühren.“ Hier und nur hier gerät Hugo unter sein Niveau.

Man muss sich nur die Liveaufnahme des Konzerts im Cultural Palace in Ramallah vom 21. August 2005 anhören, als das West-Östliche Divan Orchester unter Barenboim Mozart und Beethoven aufgeführt hat, um zu begreifen, was selbst dort möglich ist, eine reale Utopie nämlich, aber eben gerade nicht im Sinn eines „fröhlichen Musizierens“, sondern wie Barenboim in der mitaufgezeichneten Ansprache sagt, „to listen to the narrative of the other“, um die Lebenserzählung des Mitspielers verstehen zu lernen.

Hugo, auch sonst zur Selbstrevision bereit und fähig, sollte sich diesem Höreindruck noch einmal hingeben; in diesem darin zum Ausdruck kommenden gemeinsamen Wollen liegt letztlich auch der Schlüssel zum Sinn von Gstreins bewegendem, scheuen wir uns nicht zu sagen: großem Roman. Denn eines vermag wirklich Kunst noch immer, so realitätsgetränkt und kritisch bewusst sie auch sein mag: uns ein paar Kapitel, Takte oder Augenblicke lang aufmerken zu lassen und aus der Misere des Daseins zu heben. ■

Norbert Gstrein

In der freien Welt

Roman. 496 S., geb., € 25,60 (Hanser
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2016)

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