Ein kleiner Schritt, ein falscher

Schon der Titel verrät, wo Hans Platzgumers Protagonist Gerold Ebner steht: „Am Rand“. Und vor ihm: der Abgrund. Er blickt zurück auf sein Leben, in dem selbst kleine Entscheidungen in die Katastrophe führten.

Die Plastiktüte liegt bereit. Und auch sonst ist alles minuziös geplant: die Wanderung auf den Bocksberg, die letzten Stunden mit Block und Kugelschreiber am Fuß des Gipfelkreuzes. Und selbst der Fels, unter dem das vor Nässe geschützte Manuskript verschwinden wird, ist gefunden. Das Paket muss so versteckt sein, dass man es irgendwann entdeckt: Irgendjemand soll dereinst lesen, was Gerold Ebner über sich und seine Erinnerungen aufgeschrieben hat, ehe er sich direkt an den Abhang gestellt hat, um in die Tiefe zu springen.

„Am Rand“ nennt Hans Platzgumer seinen nunmehr fünften Roman. Der Titel ist Programm: Die Ausläufer der Gesellschaft, die Grenzlinien zwischen Wollen, Dürfen und Müssen und das Niemandsland der Selbstjustiz sind das Terrain, auf dem sich der Autor besonders wohlzufühlen scheint. Der gebürtige Innsbrucker ist ein universell begabter Künstler: Er studierte Elektroakustik und Filmmusik in Wien und Los Angeles, spielte in verschiedenen internationalen Punk- und Rockbands und brachte ungezählte CDs mit elektronischer Musik heraus. Heute lebt er in Bregenz, verfasst Romane, Hörspiele und Essays und komponiert für Oper und Theater. Einen Teil seiner Erfahrungen hat er in seiner „Expedition. Die Reise eines Underground-Musikers in 540 KB“ geschildert. Zuletzt erschien eine Art Roadmovie vor dem Hintergrund des Erdbebens, das Kalifornien 1994 erschütterte. Jetzt ist er zurück in Österreich. Ich-Erzähler Gerold Ebner ist 42, als er beschließt, sich in den Tod zu katapultieren. Zuvor aber zieht er Bilanz. Ein fast schon altmodischer Stoff, der bei Platzgumer in Sprache, Inhalt und Struktur einen zeitgemäßen Zug bekommt.

Oft ist es nur der berühmte falsche Schrittoder eine Unachtsamkeit, die eine Katastrophe auslösen. Mit einem Schlag ist nichts mehr wie zuvor: ein Leitmotiv des Romans. Selbst die Geburt des Helden verdankt sich einer kurzen Nachlässigkeit. Gerold Ebner ist der Sohn einer Prostituierten. Vater unbekannt. Eine Schande, so empfindet es die Mutter, und wirft sich in die Arme der katholischen Kirche, um ihr als Alten- und Krankenpflegerin zu dienen. Für den Sohn sorgt sie nach Kräften. Die zwei lieben einander, ohne es zeigen zu können. Sie leben in einem Kokon, die dem Charakter Gerolds sehr entspricht. Er hat etliche Freunde, doch eigentlich ist er ein Einzelgänger, der seiner inneren Stimme folgt. Als sein tyrannischer Großvater im Sterben liegt, hilft er nach: Er erlöst ihn von seinem Kampf und rettet damit seine Mutter aus der Umklammerung ihrer Tochterpflichten, die sie zu zerstören drohen. Jahre später packt er ein zweites Mal mit an, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern: Diesmal ist es ein Kumpel von früher, der sich mit Lauge Mund und Speiseröhre verätzt hat und fortan als Schatten seiner selbst vor sich hin vegetiert.

Hat er damit Schuld auf sich geladen? Gerold Ebner denkt nicht weiter darüber nach. Er handelt instinktiv so, wie er es für richtig hält. Als er auf Elena trifft, tun sich zwei Querköpfe und Einsiedler zusammen. Die beiden schotten sich von der Außenwelt ab. Sie brauchen niemanden. Bis Elenas unerfüllter Kinderwunsch quälender wird. Und so schnappen sie sich ein unbegleitetes kleines Mädchen, das sie in einem französischen Motel weinend auf der Treppe sitzen sehen, und entführen es. Fortan fühlen sich die beiden zwischen Glück und Angst gefangen. Die Elternschaft, an die sich jede Menge juristischer Verstöße knüpfen, läuft auf eine Katastrophe zu. Und neuerlich reicht ein falscher Schritt, und Gerolds Sicherheiten sind vollends aus den Angeln gehoben.

Hans Platzgumer schickt einen Helden aus, die Möglichkeiten des Individuums auszuloten. Wie weit darf man in seinem eigenen Rechtsempfinden gehen, wo muss der Staat eingreifen? Wo bremst eine Gesellschaft, die bis in Details hineinreglementiert ist, die Freiheit des Einzelnen? Gerold Ebner, der sich nach außen hin zurückhaltend und unbedarft gibt, ist ein Anarchist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er ist Gelegenheitsarbeiter und Schriftsteller und weiß meist nicht, wie ihm geschieht. Schließlich beginnt er, den eigenen Abgang zu inszenieren.

Statt des berühmten Briefs hinterlässt er das Manuskript. „Ich sehe, wie ich Zufälligkeiten ausgeliefert bin und höchstens reagieren, nur in kleinem Rahmen agieren kann“, analysiert er sich darin ohne große Emotion. „Ich kann versuchen, Einfluss zu nehmen, weiter und weiter, weil es des Menschen Pflicht ist, nicht aufzugeben, aber immer wieder erreiche ich den Punkt, an dem die Selbstbestimmung endet. Dahinter bleibtnichts als blindes Vertrauen, ein Hoffen.“ Einletztes Sich-Aufbäumen, zwischen Resignation und Wunschtraum.

Platzgumer setzt ein Drama in Gang, das lakonisch und ohne Pathos daherkommt. Komposition, Rhythmus, Klang, Stimme: Der Autor hört sich beim Schreiben genau zu. „Am Rand“ spiegelt sein Gespür für Melodie und Komposition. Irgendjemand würde das Plastikpaket mit seinen Aufzeichnungen schon ausgraben, daran glaubt dieser Gerold Ebner und holt die möglichen Leser, die er laufend anspricht, sehr konsequent in seinen Roman hinein. Auffällige Strukturelemente sorgen dafür, dass die Handlung nicht zur bloßen Leidensgeschichte abdriftet.

Seine Liebe zum Karate, die Kunst der waffenlosen Selbstverteidigung und darin philosophisches Modell, inspiriert den Protagonisten, seine Aufzeichnungen in viele Einzelteile zu zersplittern. Jeder von ihnen ist mit dem Titel Hitotsu versehen, ein Begriff aus dem Japanischen, der bei diesem Kampfsport die Ehrbezeugungen einleitet. „Erstens“ lautet die Übersetzung. Dementsprechend gibt es in diesem Buch also ungezählte dieser gleichwertig nebeneinanderstehenden „erstens“: eine Methode, den Erzählfluss in eine Bahn zu bringen. „Alles war gleichbedeutend, nichts wichtiger, nichts weniger wichtig als anderes. Nur im Nachhinein werden die Zusammenhänge deutlich, in denen alle Hitotsus meines Lebens standen.“

So einfach ist das also. Und die Moral von der Geschicht'? Gibt's nicht! Platzgumer entlässt uns ins Offene. Dort trägt man den Roman noch eine Weile mit sich herum. ■


Am 9. Februar, 19 Uhr, liest der Autor aus seinem Roman: in der Alten Schmiede in der Wiener Schönlaterngasse 9.

Hans Platzgumer

Am Rand

Roman. 208 S., geb., € 20,50 (Zsolnay Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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