Das Kind wird zum Monster

„Das Gift“: Samanta Schweblins knapper, luzider Horrorroman über mütterliche Urängste.

Sie sind wie Würmer.“ Es ist David, noch ein Junge, der spricht und dabei auf dem Bett der Erzählerin, Amanda, sitzt. Man müsse herausfinden, wann diese Würmer geboren seien. Amanda hat indes Mühe, ihre Situation zu begreifen, hat Mühe, sich an die Geschichte zu erinnern, die sie in dieses Bett geführt hat. Vielleicht ist sie in einem Krankenhaus, vielleicht auch nicht? Ihre Angst wächst, wird zur Todesangst.

Aus dem Dialog dieser zweier Figurenkomponiert die Argentinierin Samanta Schweblin (geboren 1978 in Buenos Aires) ihren knappen, luziden Horrorroman „Das Gift“. Amanda erinnert sich, wie sie vor ein paar Tagen mit ihrer Tochter Nina zur Erholung in dem Dorf angekommen ist und Carla mit den roten Haaren kennengelernt hat, Davids Mutter. Eine unmittelbare Anziehung, auch mit erotischen Untertönen, lässt sie die Nähe der anderen suchen. Nur der Sohn erscheint ihr seltsam, aber Carla zögert: „Wenn ich es dir erzähle, willst du bestimmt nicht mehr, dass er mit Nina spielt.“

David sei ihr Junge gewesen, jetzt nicht mehr. Vor sechs Jahren sei es passiert: Ein wertvolles Pferd ihres Mannes, Omar, trinkt vergiftetes Wasser und stirbt. Um David, der auch von dem Wasser getrunken hat, zu retten, bringt Carla ihn zu einer Wunderheilerin, die eine „Transmigration“ verspricht: „Wenn man für Davids Geist rechtzeitig einen anderen Körper fände, verschwände damit auch ein Teil der Vergiftung.“ Im Austausch würde aber ein unbekannter Geist in seinen Körper einziehen. David sei also gerettet worden, und damit sei der glückliche Teil der Geschichte schon erzählt.

David sei danach ein „Monster“ gewesen, entfährt es Carla einmal, als Viereinhalbjähriger habe er schon begonnen, seine Zeit damit zu verbringen, Tiere zu beerdigen. Mit seiner Deformation ist er auf dem Land aber beileibe nicht allein. Aber nicht alle betroffenen Kinder wurden vergiftet, manche sind schon mit dem Gift im Körper zur Welt gekommen: Kollateralschäden der intensiven Landvergiftungswirtschaft.

Versagen des Mutterinstinkts

Schweblins Roman kreist auch um die tiefsten Ängste und Befürchtungen einer Mutter. Ist dieses Kind noch mein Kind? Welche seltsame Persönlichkeit entwickelt sich da? Im Original heißt der Roman „Distancia de rescate“, Rettungsabstand, womit Amanda die flexible Entfernung, die sie je nach Gefahrenlage von ihrer Tochter trennt, benennt. Der Ausdruck jener mütterlichen Urangst, die sie von der eigenen Mutter eingetrichtert bekommen hat und an ihre Tochter weitergeben wird. Wenn etwas Schlimmes passiert, will sie Nina bei sich haben. Als es Amanda schließlich zu gruselig wird und sie flüchten will, passiert das Unglück: Nina und sie setzen sich in eine Flüssigkeit, die sie als Tau ansehen, in Wahrheit aber ein agrochemischer Düngercocktail ist – das ultimative Komplettversagen des Mutterinstinkts.

Schweblin spielt sprachlich virtuos mit den Konventionen des Genres wie der langsamen Steigerung der Intensität verstörender Geschehnisse. Eindrucksvolle Albtraumbilder generieren Ängste, und Kinderspiele sind keine Spiele mehr, sondern in den Augen der verdämmernden Erzählerin Auswüchse des Grauens. Sitzt David wirklich nur am Krankenbett, um ihr zu helfen, oder ist er ein Todesbote in Kindergestalt? Nina wird – so viel nur sei verraten – wieder gesund werden. „Aber da ist noch etwas anderes, und ich weiß nicht, was das ist. Was anderes in ihr drin.“ ■

Samanta Schweblin

Das Gift

Roman. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. 128 S., geb., € 17,50 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.