Hitler über den Betten

Folterkammer oder Ferienlager? Das Bild des Anhaltelagers Wöllersdorf zur Zeit des Austrofaschismus schwankt stark, je nachdem, welche Quellen man heranzieht. Die Historikerin Pia Schölnberger legt nun eine klärende Studie vor.

Im November 1934 konnte der dänische Journalist Henry Hilssen das austrofaschistische Anhaltelager Wöllersdorf besuchen und berichtet: „Über Wöllersdorf sind die seltsamsten Gerüchte im Umlauf. Namentlich die Nationalsozialisten schildern das Lager als eine Hölle. Es wurde allen Ernstes behauptet, dass die Regierung dort die Nasen und Ohren ihrer Gegner abschneiden lasse, und in ihrer Fantasie widerhallte das Lager vom Stöhnen der Misshandelten und vom Geschrei der Ausgepeitschten.“ Wöllersdorf gleich Dachau?

Der englische Journalist G. E. R. Gedye, der beide Lager besucht hat, schreibt darüber: „Eines haben Wöllersdorf und Dachau gemeinsam: Hier wie dort schienen sich die Nazis sehr wohlzufühlen.“ Das stimmt überein mit Hilssens Bericht: „Ein Lager, in dem die politischen Gefangenen Urlaub bekommen.“ Im Jahr darauf veröffentlichte der österreichische Nationalsozialist Alfred Eduard Frauenfeld in Deutschland seine Version. Er kommt zu einem anderen Ergebnis: „Folterkammer Österreich“.

Gräuel einerseits, Idyll andererseits. Was stimmt? Die junge Historikerin Pia Schölnberger hat eine umfassende Studie über das Anhaltelager Wöllersdorf verfasst, der die Zitate der beiden Journalisten entnommen sind. Die Autorin schildert zunächst als Vorgeschichte des Lagers den Weg in die katholische Diktatur, setzt sich mit dem neuerdings wieder umstrittenen Begriff Austrofaschismus auseinander und entscheidet sich für diesen. Das hält auch, wenn man hinzufügt, dass trotz erkennbarer Übereinstimmungen Wesentliches fehlt, das den Faschismus ausmacht: keine vitale Massenbewegung, keine brauchbare Führerfigur, kein totalitärer Anspruch und der vollständige Mangel an Modernität, die der Faschismus auch hat. Stattdessen katholisch-reaktionäre Rückbesinnung auf die Zeit vor der Französischen Revolution und „Gott will es“ – so Dollfuß. Hanisch und Kriechbaumer verwenden den Begriff Imitationsfaschismus. All das kann man aber auch unter Austrofaschismus zusammenfassen, muss sich allerdings der Problematik der Zuschreibung bewusst sein.

Imitationsfaschismus: Dass Wöllersdorf, das im Oktober 1933 die ersten Häftlinge aufnimmt, auf Dachau zurückgeht, das im März 1933 begann, ist offensichtlich. Die Idee kommt aus Deutschland. Gleichzeitig ist aber die österreichische Bundesregierung ängstlich bestrebt, den fundamentalen Unterschied zwischen ihrem Anhaltelager und einem nationalsozialistischen Konzentrationslager klarzumachen. Zu Recht. Die bekannteste Kronzeugin dafür ist Rosa Jochmann, die auch von Schölnberger zitiert wird: „Einen Vergleich zwischen dem KZ in Wöllersdorf und den (nationalsozialistischen) Kerkern aus dieser Zeit kann man, wenn man wahrhaft sein will – und das will ich sein –, in keiner Form ziehen.“

Interessant: Rosa Jochmann lehnt die Gleichsetzung von austrofaschistischem und nationalsozialistischem Lager entschieden ab, doch sie bezeichnet Wöllersdorf als KZ. Damit folgt sie der sozialdemokratischen Terminologie und rückt – ganz gegen den Inhalt ihrer Aussage – Wöllersdorf sprachlich nun doch wieder in die Nähe von Dachau und Ravensbrück. „Nie mehr KZ Wöllersdorf!“ heißt es auf einem Wahlplakat der SPÖ 1956. Doch das Anhaltelager war kein KZ. Schölnbergers Arbeit zeigt das. In Wöllersdorf wurde weder gemordet noch systematisch misshandelt. Es gab keine Vernichtung durch Arbeit, weil Zwangsarbeit – von Ausnahmen abgesehen – nicht vorgesehen war. Und da, wo sie vorgesehen war, hat sie nicht funktioniert.

Der für das Lager zuständige Sicherheitsminister Eduard Baar-Baarenfels schreibt in seinen Erinnerungen, „dass das Hänseln und Provozieren der Wachmannschaften durch die Inhaftierten schon unerträglich“ gewesen sei. Selbst wenn der Minister übertreibt: Kann man sich Ähnliches in Dachau vorstellen? Und kann man sich vorstellen, dass die Häftlinge in Dachau ihre Baracken mit Stalin- oder Churchill-Bildern verschönert hätten? In Wöllersdorf aber sei es – eigentlich unglaublich! – so gewesen, dass in den Nazi-Schlafsälen „über den Betten der Häftlinge massenweise Hakenkreuze und Hitler-Bilder“ hingen. Kein Wunder, dass sich sowohl Ministerium als auch Lagerleitung über den erzieherischen Wert ihrer Maßnahmen keine Illusionen gemacht haben, während gleichzeitig nationalsozialistische Zeitungen vom „Martyrium“ in Wöllersdorf faselten.

Angesichts solcher Lügen besteht die Gefahr der Verharmlosung. Pia Schölnberger ist sich dessen bewusst. Daher stellt sie fest: Wöllersdorf ist das Lager einer Diktatur, in dem Bürgerrechte aufgehoben waren, wo Grausamkeit sich darin äußert, dass die Dauer der Anhaltung ungewiss ist, wo die Entlassung dem willkürlichen Ermessen der Behörde obliegt, wo bei Verstößen immer wieder mit Kollektivstrafen geantwortet wird, wo schon davor – Kreisky sah darin „die ganze Heimtücke des Regimes“ – politisch widerständiges Verhalten dreifach geahndet wird: mit Polizeistrafe, mit Gerichtsstrafe und mit Einweisung ins Lager. Und wo schließlich die Inhaftierten ihren Zwangsaufenthalt auch noch – wenn möglich – selbst bezahlen solltenmittels schikanösem Vermögensentzug.

Wöllersdorf war das Instrument einer schwachen, aber durchaus bösartigen Diktatur. Wöllersdorf erscheint uns deswegen eher harm- und hilflos, weil wir dahinter zur gleichen Zeit das grauenhafte nationalsozialistische KZ-System sehen. So gesehen ist Wöllersdorf tatsächlich harmlos. Pia Schölnberger hat diesen Widerspruch in ihrer ausgezeichneten Arbeit herausgearbeitet. Sie hat gründlich recherchiert, kennt Quellen und Literatur, bewertet diese kritisch und hat ihr Thema umfassend dargestellt. Bis auf Weiteres das Standardwerk über Wöllersdorf. ■


Das Buch wird am 24. Februar um 18 Uhr im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien I, Wipplingerstraße 6–8, vorgestellt.

Pia Schölnberger

Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938

Strukturen – Brüche – Erinnerungen. 432 S., brosch., € 54,90 (LIT Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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