Der beste Zahnarzt in ganz Texas

Mit Lucia Berlin ist eine Autorin zu entdecken, deren Geschichten so unglamourös daherkommen wie ihre Schauplätze: Waschsalons, Arztpraxen oder Kliniken. Ihre Wucht verdanken die Erzählungen einer radikalen Unbestechlichkeit im Blick auf die Menschen.

Dass die ausgewiesene Kurzgeschichtenautorin Alice Munro2013 den Nobelpreis für Literatur erhielt, dürfte sich wohl nicht als hinderlich erwiesen haben, dass die außerordentliche Erzählerin Lucia Berlin nunmehr posthum von einem breiten Publikum entdeckt werden kann.

1936 in Alaska geboren – der als Bergbauingenieur tätige Vater führt seine vom Alkoholismus belastete Familie an viele Bergbauorte, auch in Mexico und Chile –, muss Berlin, an Skoliose erkrankt, ab ihrem zehnten Lebensjahr der Rückgratverkrümmung wegen ein Metallkorsett tragen und ist aufgrund dieser Krankheit gegen Ende ihres Lebens – sie stirbt 2004 – auch noch von einer Sauerstoffflasche abhängig.

Mit 24 Jahren veröffentlichte sie in einer von Saul Bellow mitbegründeten Literaturzeitschrift ihre erste von insgesamt 77 – sporadisch geschaffenen – Geschichten. Keine Frage: In der Kunst zählt stets nur das Ergebnis. Aber nach Lektüre der knapp 400 Seiten mit Erzählungen sowie der Angaben zu Lucia Berlins Lebensverlauf – publiziert auch auf der ihr gewidmeten Homepage – bin ich davon überzeugt, dass keine einzige dieser Geschichten ohne die spezifischen Erfahrungen der Autorin denk-, nein: schreibbar gewesen wäre! Zusammengenommen wirken diese „Stories“, in denen meist eine Protagonistin im Zentrum steht, die einen an Lucia Berlin denken lässt, wie ein Kaleidoskop des unsteten Lebens ihrer Verfasserin.

Mit Anfang 30 schon dreimal geschieden,erzog sie ihre vier Söhne großteils allein, war jahrzehntelang so schwer alkoholabhängig wie schon ihr Großvater, ein Zahnarzt, der offenbar Lucias gleichfalls alkoholkranke Mutter, zu der sie (und ihre jüngere, an Krebs verstorbene Schwester) eine höchst komplizierte Beziehung hatte, sowie seine Enkelin missbraucht hatte.

Nach Sprachstudium und gescheiterten Ehen arbeitete Lucia Berlin als Putzfrau, Aushilfslehrerin, Krankenpflegerin oder Telefonistin in einer Abtreibungsklinik, um zuletzt kreatives Schreiben an der Universität zu unterrichten. Spät erst glückt ein Alkoholentzug. Über kleinere Underground-Verlage wie die Black Sparrow Press, wo auch CharlesBukowski, Paul Bowles und der mit Berlin befreundete Robert Creeley publizierten, fandsie zu ihren Lebzeiten zwei- bis dreitausend treue Leserinnen und Leser.

Nun ist es ihrem engen Freund und Bewunderer, dem Autor Stephen Emerson, gelungen, eine Auswahl von 43 ihrer Erzählungen in einem traditionsreichen Großverlag herauszubringen. Umgehend wurde der Band zum „New York Times“-Bestseller und ist seither Teil des internationalen Lizenzgeschäftes. Und so erreicht uns „A Manual for Cleaning Women“, von der deutschen Autorin Antje Rávic Strubel übersetzt und mit einem Vorwort versehen, unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ auch auf Deutsch.

Mit Lucia Berlin ist eine Autorin zu entdecken, deren Geschichten so unglamourös daherkommen wie ihre Schauplätze –Waschsalons, Arztpraxen oder Kliniken. Ihre Wucht und Unmittelbarkeit verdanken sie einer radikalen Unbestechlichkeit im Blick auf die Menschen, die einem gelegentlich fast den Atem nimmt und oft viele Facetten der Persönlichkeit miteinschließt. Unsentimental, unprätentiös erzählt, wirkt diese Prosa gelegentlich beinahe wie eine Mitschrift gelebten Lebens. Berlins enger Freund Emerson spricht offen davon, dass sie ihr unruhiges Leben voller Verletzungen aufs Papier gebannt und in faszinierende Erzählungen verwandelt habe.

„Alle hassten Grandpa, außer Mamie und vielleicht mir. Jede Nacht war er betrunken und wurde gemein. Er war grausam, stur und stolz. Bei einem Streit hatte er meinem Onkel John das Auge ausgeschossen, und meine Mutter hatte er das ganze Leben lang beschämt und gedemütigt. Sie redete nicht mit ihm, ging nicht einmal in seine Nähe, weil er so dreckig war, Essen verschüttete, spuckte und überall seine nassen Zigaretten liegen ließ... Er war der beste Zahnarzt in West-Texas, vielleicht in ganz Texas.“

Dabei sind diese scheinbaren Stenogramme von Außenseiterleben – immer wieder ist es der Alkoholismus, der ins Zentrum der Biografien der weiblichen Hauptfiguren gerät und diese Menschen an den Rand der Gesellschaft drängt, ihnen die ganze Tristesse des Alltags von Süchtigen aufzwingt – sehr wohlgestaltete und häufig mit einer Pointe schließende Erzählungen.

Die alkoholabhängige alleinerziehende Mutter, die sich in aller Früh vor den Spirituosenladen schleppt, um mit anderen kaputten Säufern auf das Aufsperren zu warten, weil sie erst nach dem Trinken überhaupt in der Lage ist, ihre Kinder für die Schule fertig zu machen. So nüchtern – ohne moralischen Zeigefinger, dafür unausweichlich drastisch – wurde über eine Trinkerin wohl selten geschrieben!

Nur in einer der Geschichten tauchen gehäuft Bilder auf – „Palmenblätter rieben in der Prise aneinander wie Karten, die gemischt wurden“ –, eine originelle Metaphorik, auf die sie sonst fast immer verzichtet und dadurch das schafft, was Emerson wohl meint, wenn er festhält: „Ihre Art zu schreiben hat Biss.“

Ihre Erzählungen, merkt Übersetzerin Rávic Strubel zu Recht an, „sind von Traurigkeit und Trauer durchströmt, von einer tiefen inneren Verletztheit. Ihr Ventil ist das Lachen.“ Jawohl, es ist der Witz, der in diese Geschichten fährt, sie kurz grell ausleuchtet und durch die Komik eine weitere Dimension der beschriebenen Leben erhellt.

In der Erzählung „Mama“ erinnern sich zwei Töchter – die jüngere wird bald an Krebs sterben – schonungslos an das Drama der verkorksten Beziehung zu ihrer alkoholabhängigen Mutter. Die Familie ist aus anderen „Stories“ bekannt; der trunksüchtige Opa (Zahnarzt), Onkel John und so weiter. „Sie hatte Humor. Das musst du schon zugeben.“ Die Mutter machte sich Gedanken von der Art: „Was, wenn Jesus auf dem elektrischen Stuhl getötet worden wäre? Statt der Kreuzanhänger würden alle Stühle um den Hals tragen.“

Nur der umfangreichere Text „Mijito“ – von wechselnden Personen erzählt – scheint im sehr tragisch verlaufenden Leben einer jungen analphabetischen, illegal in den USA befindlichen Mexikanerin über das unmittelbar Familiäre von Lucia Berlin hinauszugehen. Die Frau erleidet viel Übles, vergrößert es durch eigene Fehler. Realistisch und bitter der Humor: „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sprach ein Ave Maria, aber es war so laut überall, wie sollte ein Gebet da jemals erhört werden?“

In einer Story heißt es: „Jeder, der sagt, er weiß genau, wie es einem anderen geht, ist ein Idiot.“ Und doch hinterlässt LuciaBerlins ebenso großartige wie eindringliche Literatur nicht zuletzt das Gefühl, dem Wissen darum, wie es anderen Menschen geht, deutlich nähergekommen zu sein. ■

Lucia Berlin

Was ich sonst noch verpasst habe

Stories. Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. 384 S., geb., € 23,70 (Arche Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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