Das Maiskorn aus dem Kot

16 Jahre Gulag: die nüchternen Manuskripte der altösterreichischen Ärztin Angela Rohr.

Irgendwann in den 1940er-Jahrenbrachte man aus einem Lager tief in der Taiga einen bereits gehunfähigen Mann ins Lagerlazarett von Karrier. Er war am ganzen Körper aufgeschwollen,und das einzige Wort, das er in kurzen Abständen stammelte, war: „kaputt“. Eineösterreichische Begegnung in der sibirischen Einöde, denn wie die Lagerärztin war der Sterbende ein aus dem alten Österreich stammender Gefangener. „Welche Bescheidenheit“, sinniert die Ärztin Angela Rohr, „wenn dann jemand dieses Wort auf sein ganzes Leben anwendet. Wie tief mag sein Bedauern über dieses so sinnlose Sterben gewesen sein.“ Der Mann stammelte nur immer weiter und immer leiser „kaputt“, „kaputt“ – ehe er für immer verstummte.

Angela Rohr war während 16 Jahren Haft und Verbannung in stalinistischen Straflagern und Verbannungsorten in Westsibirien zwischen 1941 und 1957 alltäglich mit Sterbenden konfrontiert. Der Tod war ihr ständiger Begleiter, wich ihr nie von der Seite: „Je mehr ich ihr Sterben sah, desto mehr entfernte ich mich von mir selbst, ich fühlte meine Schmerzen kaum.“ Und: „Es gab im Lager ein üblichesund ein nicht übliches Sterben. Üblich und mit Gleichmut aufgenommen, wenn es im Lazarett geschah, unerwünscht an der Arbeitsstelle und direkt verboten in der Baracke selbst – und dennoch kamen alle drei Arten vor.“ Im Lazarett wurden Tag für Tag Tote gebracht und abgeholt: „Es war nichts anderes als eine Zeremonie, die sie zur Legalisierung des Todes brauchten, Bürokratismus eben.“

Rohrs Bericht aus sowjetischen Straflagern fällt nicht so dramatisch aus wie etwa die Erlebnisse der polnischen Stalin-Opfer Gustaw Herling („Welt ohne Erbarmen“), Janusz Bardach („Der Mensch ist des Menschen Wolf“) oder des deutschen Kommunisten Wolfgang Ruge („Gelobtes Land“). Aber gerade durch ihre nüchterne, distanzierte Erzählweise wird die Lagerhölle ebenso begreifbar wie in den aufwühlenden Berichten ihrer berühmteren Leidensgenossen. Etwa, wenn sie den nie endenden Hunger beschreibt: „Sie aßen alles, was der Mund aufzunehmen bereit war. Der Hunger war so groß, dass sie die unverdauten Maiskörner aus dem menschlichen Kot auswuschen und aßen.“

Freundschaft mit Rilke

Angela Rohrs Lebensgeschichte ist eine, wie es sie wohl nur im 20. Jahrhundert gegeben hat. Geboren 1890 im mährischen Znaim, zieht ihre Familie 1904 nach Wien. Mit 18 lernt sie den expressionistischen Schriftsteller Leopold Hubermann kennen, heiratet ihn nach der Geburt einer Tochter, reist mit ihm durch Europa. Sie erkrankt 1914 an Tuberkulose,trennt sich von Hubermann, geht zwei Jahre später eine Scheinehe mit dem Berliner Expressionisten Simon Guttmann ein. 1920 schließt sie in Locarno Freundschaft mit Rainer Maria Rilke, 1921 beginnt sie ein Studium am Psychoanalytischen Institut in Berlin.

Dort lernt sie den aus Galizien stammenden Studenten Wilhelm Rohr kennen, heiratet erneut und folgt ihm nach Moskau, wo sie auch Bertolt Brecht begegnet und als Korrespondentin arbeitet. 1941 geraten sie und ihr Mann in die Fänge des stalinistischen Terrorapparats, sie überlebt den 16-jährigen Horror. Erst 1977 wird sie von österreichischen Diplomaten in Moskau entdeckt, danach auch von der Botschaft betreut. Ihre Gulag-Manuskripte werden nach Wien geschmuggelt und 1989 erstmals veröffentlicht. „Lager“ ist also eine Neuauflage. Angela Rohr verstarb 1985 in Moskau. ■

Angela Rohr

Lager

Autobiografischer Roman. Hrsg. von Gesine Bey. 446 S., geb., mit Abb., € 23,60 (Aufbau Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.