„Ich klag nicht für mich allein“

Anna Achmatowa war eine der bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Den sowjetischen Machthabern galt sie als Feindbild, bei der Bevölkerung war sie sehr populär. Ein Porträt zu ihrem 50. Todestag.

Muse des Weinens, schönste aller Musen / . . . Anna / Achmatowa! Dieser Name ist ein gewaltiger Seufzer, / und er fällt in eine Tiefe, die namenlos ist“, dichtete die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa in einem Gedichtzyklus, den sie der verehrten Dichterkollegin widmete.

In dieser namenlosen Tiefe sammelt sich der Bodensatz der leidvollen Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert mit der Revolution, einem Bürgerkrieg und zwei Weltkriegen und mit der Gewaltherrschaft des Stalinismus über Russland und seine Bewohner hereingebrochen sind. Anna Achmatowa (1889–1966) war neben Marina Zwetajewa die bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, die gewaltige lyrische Stimme einer unheilvollen Epoche, die sie als Zeitzeugin erlebte und als Betroffene durchlitt.

Anders als viele ihrer Freunde und Kollegen aus der russischen Intelligenz sah Anna Achmatowa in der Emigration keine Möglichkeit für sich: „Nein, nicht mit denen bin ich, die das Land / Dem Feind hinwarfen, Fleisch zum Fraß“ ist eine viel zitierte Gedichtzeile aus dem Jahr 1921. „Mein Leben blieb verschont, euch zu beweinen“, schrieb sie 20 Jahre später, als sie 1941 gemeinsam mit anderen Autoren während der Leningrader Blockade nach Taschkent evakuiert und vor dem Hungertod bewahrt wurde.

Zu dieser Zeit lag bereits unermessliches persönliches Leid hinter ihr: Ihr ersterMann, der Dichter Nikolaj Gumiljow, war 1921 als Konterrevolutionär erschossen worden, in den Dreißigerjahren wurde der gemeinsame Sohn Lew mehrfach verhaftet, zusammen mit Achmatowas drittem Ehemann, dem Kunsthistoriker Nikolaj Punin. Dieser starb 1953 in einem Arbeitslager, Lew Gumiljow überlebte den Gulag zwar, kam aber erst drei Jahre nach Stalins Tod 1956 endgültig frei.

Achmatowa verbrachte viele Jahre im Kampf um seine Freilassung und in unaufhörlicher Angst vor einer Todesnachricht: Ihm ist eines ihrer Hauptwerke, das Poem „Requiem“ gewidmet, und damit auch allen Opfern des Stalin-Terrors: „Ich war damals bei meinem Volk / Dort, wo es war, zum Unglück, war ich.“ Das Werk ist Klage, Anklage und Gedenken zugleich, der brisante Text existierte jahrelang nur im phänomenalen Gedächtnis der Dichterin, aus Angst um den Sohn wurde er, wie auch andere ihrer Werke, vernichtet und wieder rekonstruiert.

Schon früh empfand sich Anna Achmatowa schicksalhaft zum Austragungsort der Spannungen ihres Zeitalters und ihres Umfeldes bestimmt. Sie wurde 1889 als Tochter eines Marineoffiziers in Odessa geboren, die Familie übersiedelte bald nach Zarskoje Selo in die Nähe von Petersburg, wo Anna Gorenko, wie sie eigentlich hieß, das Lyzeum besuchte, später studierte sie in Petersburg Literaturwissenschaft.

Achmatowa ist der tatarische Name ihrer Großmutter, der Familienlegende nach verweist er auf die Abkunft von Achmed Chan, einem Nachfahren des Tschingis Chan. Sie distanzierte sich damit vom Vater, der seinen Namen nicht mit einer dichtenden Tochter in Verbindung gebracht sehen wollte. Die Scheidung der Eltern und der frühe Tod von vier der sechs Geschwister wirkten traumatisierend. Anna Achmatowa empfand sich ihr ganzes Leben als Unbehauste, eigene familiäre Bindungen aufzubauen gelang ihr nicht:Drei Ehen gingen in die Brüche, andere Männer, denen sie sich verbunden fühlte, emigrierten, starben jung oder wurden Opferpolitischer Repressionen.

Liebe und Trennungsschmerz waren das Thema, mit dem sie als neue lyrische Stimme in der reichhaltigen Landschaft des Silbernen Zeitalters aufhorchen ließ, als 1912 ihr erster Gedichtband, „Abend“, erschien. Unsentimental und wahrhaftig klangen diese Verse, und trotz des klassischen Versmaßes ungeheuer modern: Die Gruppe der Akmeisten zeichnete sich durch die Rückkehr zur Gegenständlichkeit aus und hob sich dadurch von der intellektuell-enigmatischen Verspieltheit der Symbolisten und dem utopischen Gestaltungswillen der Futuristen ab. „Ich bin keine Poetesse“: Die Bezeichnung „Dichterin“ lehnte Achmatowa für sich ab, aber anders als Sinaida Hippius, die in Erscheinung und künstlerischem Gestus Männer kopierte, war ihre Weiblichkeit für Achmatowa Selbstverständlichkeit, und das machte sie zur Kultfigur: Junge Frauen ihrer Generation sahen in ihr den Inbegriff einer modernen Frau, Männer fühlten sich von ihrer majestätischen Ausstrahlung angezogen und Künstler von ihrer charismatischen Erscheinung mit dem dunklen Haar und dem ausdrucksstarken Profil mit der charakteristischen Hakennase inspiriert: Während ihres Paris-Aufenthalts 1911 zeichnete sie der junge Amedeo Modigliani, zu den bekanntesten russischen Arbeiten zählen die Porträts von Kusma Petrow-Wodkin und Natan Altman, Letzteres ist zurzeit in der Albertina zu sehen.

Achmatowas Frühwerk – fünf bis 1922 erschienene Lyrikbände – begründete ihren Ruhm als Star der Literatur, ihre Gedichte kannte man auswendig. Als sie sich in den Zwanzigerjahren in die innere Emigration zurückzog und in der Stalin-Ära schließlich mit Publikationsverbot belegt wurde, lebte sie in der illegal verbreiteten Samisdat-Literatur und im Gedächtnis der Leser weiter. 1940 durfte wieder ein Gedichtband erscheinen, um die wenigen Exemplare entbrannte ein Kampf an den Ladentischen, aber schon 1946 verhängte Andrej Schdanow, ZK-Sekretär für Kultur, erneut den Bann über die „Dirne und Nonne, bei der sich Unzucht und Gebet verflechten“: Er nannte sie „eine Scherbe der untergegangenen Adelskultur“.

Tatsächlich ist ihr letztes großes Werk, die Versnovelle „Poem ohne Held“, ein Abgesang auf eine Epoche, deren Untergang sie in eine kulturelle Katastrophe hat münden sehen. Ihr hochsensibles Empfinden für die Wunden ihrer Zeit im Zusammenspiel mit intellektueller Reflexion und einer Verbundenheit mit der europäischen Kultur bis zurück in die Antike vertrug sich nicht mit dem Diktat des sozialistischen Realismus, der die Gegenwart von der Vergangenheit isolierte und die Zukunft feierte. Für die bolschewistischen Machthaber war die Popularität der Achmatowa eine bedrohliche Waffe der russischen Intelligenz, ein Feindbild, das sie fürchteten.

Eine Reise in den Westen ein Jahr vor ihrem Tod am 5. März 1966 – also vor 50 Jahren –, auf der sie den Ätna-Taormina-Literaturpreis und die Ehrendoktorwürde in Oxford erhielt, milderte die Bitterkeit darüber nicht. Die Gewissheit über die Kraft der Dichtung verließ sie ein Leben lang nicht: „Trotz toter Kugeln leben wir fort / Mit dem Tod unter dem Dache. / Du bleibst uns erhalten, du russisches Wort / Du große russische Sprache / Vor Untergang und Gefangenschaft / Bewahren wir deine Reinheit und Kraft / Für immer.“ ■

Ulrike Damm (Hrsg.)

schweige wund das wort

Anna Achmatowa und Ingeborg Bachmann. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzungen von Alexander Nitzberg und Paul Celan. 144 S., brosch., 29 Abb., € 25,80 (Damm und Lindlar Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.