Von Versteck zu Versteck

Moderne Odyssee: Michael Köhlmeiers unsentimentaler Roman über Flüchtlingskinder.

Viel ist es nicht, was sich Arian da wünscht. „Aspirin, zwei Rosinenbrötchen, lieber vier. Kerzen. Gutes Essen. Wurst zum Beispiel. Fleisch in einer Dose. Zwei Dosen. Brot. Butter. Banane.“ Eine überschaubare Liste – und doch ganz schön lang für einen Buben wie ihn. Er ist 14, immer auf der Flucht, immer hungrig. Vor allem aber hat er ein schmächtiges Mädchen bei sich, für das er sorgen muss. Für das Kind, das er noch ist, eine ordentliche Herausforderung. Zumal Arian vollends auf sich gestellt ist: Er hat keine Eltern oder Großeltern oder sonstigen Beschützer.

„Das Mädchen mit dem Fingerhut“ nennt Michael Köhlmeier seinen jüngsten Roman. Das Buch ist schmal und dabei gewichtig. Es kommt zur richtigen Zeit: Ungezählte unbegleitete Kinder und Jugendliche sind unterwegs, von ihren Familien getrennt, irgendwo gestrandet, weit weg von zu Hause. Wie sie sich in ihren Verstecken einnisten und wie wir als Gesellschaft scheitern, sie unter ein sicheres Dach und in unsere Mitte zu holen, davon erzählt Köhlmeiers Roman auf anrührende Weise.

Die kleine Yiza kann weder lesen noch schreiben, als man sie auf die Straße schickt. Sie ist fremd in der Stadt, versteht die Sprache nicht, kennt niemanden. Zuerst ist da irgendein Onkel, der für sie sorgt. Bis auch er verschwindet. Sie sucht ihn vergebens, verirrt sich, landet in Kälte und Dunkelheit und schließlich im Windfang eines Kaffeehauses. Als sie aufwacht, steht eine Beamtin hinter ihr und bringt sie in ein Heim. Dort trifft sie auf Arian und Schamhan, die sie mitnehmen. Ihr einziger Besitz ist ein Fingerhut. Zu dritt schlagen sich die Kinder durch. Hunger, Kälte, Schnee, ein Einbruch, die Polizei. Überall gibt es Hürden.

Das Staccato von Michael Köhlmeiers Prosa geht unter die Haut. Sein Roman ist ein gehetztes Stück Literatur, auf das Wesentliche konzentriert. Arian ist 14, Schamhan etwas jünger, das Mädchen sechs. Vater, Mutter, Kind. Ein seltsames Gespann, das nicht einmal dieselbe Sprache spricht. Sie dolmetschen einander, mit etlichen Missverständnissen, die dadurch entstehen. Auf die Frage, wie sie heiße, bringt das Mädchen nur ein „Yiza“ heraus – das ist kein Name, aber so wird sie fortan gerufen. Zuletzt bleiben Arian und Yiza allein zurück. Inzwischen ist es in dieser namenlosen Stadt im Westen Europas mordsmäßig kalt geworden.

Abgespeist mit ein, zwei Aspirin

Michael Köhlmeier schickt seine Figuren auf eine moderne Odyssee. Gleichzeitig hat der Stoff, den er unsentimental vor uns aufrollt, biblische Züge. Der Erzählduktus ist zurückhaltend, die Kommunikation zwischen den Kindern auf das Wesentlichste beschränkt. Es gibt nur die Gegenwart, keine Vergangenheit, und auch die Zukunft ist nicht mehr als ein Schemen. Der Autor liefert keine Erklärungsmodelle mit, auch keine Appelle. Ofterkennt man sich in der Art, mit jugendlichen Streunern umzugehen, wieder: Wir stecken ihnen ein paar Euro oder zwei Aspirin gegen den Husten zu, wenn sie danach fragen, und wenden uns dann ab. Perspektive bietet das keine.

Vor ein paar Monaten hat auch Köhlmeiers Frau, die Schriftstellerin Monika Helfer, ein neues Buch herausgebracht: „Die Welt der Unordnung“. Man möchte die zwei Romane nebeneinanderlegen, so sehr stehen sie im Dialog. Beide erzählen von Kindern und davon, wie sie sich unter der Last ducken, die auf ihre Schultern drückt. Sie sind zu früh erwachsen geworden und haben zu kämpfen gelernt. Mehr als das blanke Überleben ist das nicht – und das ist verdammt wenig. ■

Michael Köhlmeier

Das Mädchen mit dem Fingerhut

Roman. 140 S., geb., € 22,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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