Am Grab des toten Hundes

Kunstvoll: Eva Schmidt bringt ein paar Bewohner einer Siedlung zum Sprechen.

Es ist, wie es scheint, ein langes Jahr für die Bewohner dieser Siedlung am See: Menschen verlieben sich, werden alt oder wahnsinnig, sterben oder schlafen miteinander, und vor allem beobachten sie einander von ihren Balkonen aus.

In Eva Schmidts Roman „Ein langes Jahr“ dürfen alle möglichen Gesellschaftsschichten und Altersklassen zu Wort kommen: das langjährige Ehepaar Agostini, das ins Altersheim übersiedelt; die vitale Cora mit dem hübschen Grübchen, die mit dem psychisch kranken Workaholic Ritter Marcel eine Affäre hat und über Umwege dem beruflich gescheiterten Tom begegnet; der Teenager Ben, der sich in Ayse verliebt, die er bei einem Unfall verlieren muss; und nicht zuletzt der junge Joachim, der von seinem reichen pockennarbigen Vater aufgezogen wird. Auch Wolfgang, der vermeintlich stumme Obdachlose, darf gegen Ende des Romans einmal zu Wort kommen.

In zarten und gewalttätigen, in liebevollen und grausamen Momenten begegnen uns die Menschen dieser Kleinstadt, und wir Leser dürfen für ein oder mehrere Kapitel direkt oder indirekt an ihrer Alltagswelt teilhaben.

Was die Form betrifft, so hat Eva Schmidt einen mutigen Ansatz gewählt: Jedes Kapitel des Romans ist aus der Perspektive eines bestimmten Bewohners der Stadt beschrieben. Die Autorin spielt mit dem Wechseln der Erzählebenen, verstrickt die verschiedenen Lebensentwürfe gekonnt durch einzelne inhaltliche Verbindungslinien. Die Konstellationen wechseln: Mutter und Kind, altes Ehepaar, frisch verliebte Teenager, ein stummer Obdachloser und seine große Liebe, die manisch Puppen sammelt, eine Künstlerin beim Arbeiten mit Kohlestift, eine Icherzählerin und ihr Hund – alle möglichen zwischenmenschlichen Spielarten haben in den Erzählungen Platz.

Intelligente Technik

Den Fokus legt Eva Schmidt ohne Zweifel auf die formale Struktur des Buches. Jede wichtige Figur erscheint zumindest zweimal, sodass der Leser ihr Verhältnis zu den anderen Protagonisten erkennen kann. Aber auch hier wählt die 1952 in Lustenau geborene Autorin eine intelligente Technik: Manch eine der Personen begegnet uns beim ersten oder zweiten Mal nur indirekt, einige sind mit Namen versehen, andere bleiben anonym, manche changieren zwischen einem „er“ und einer konkreten Benennung et cetera.

Angelpunkte sind in Eva Schmidts Text Hunde und Balkone: So wird Frau Agostini manchmal eifersüchtig auf den Hund ihres Mannes, ist die Icherzählerin stets von einem Freund auf vier Pfoten begleitet, zieht es den gescheiterten, wieder heimkehrenden Tom mehr zum Grab seines toten Hundes als zu seinem lebenden Vater. Gleichzeitig beobachtet die Icherzählerin Ben und Ayse, Cora und Tom von ihrem Balkon aus und wird vice versa von diesen wahrgenommen.

So diffizil und kunstvoll die Form sich im Gesamtverlauf des Buches vor dem Leser auffaltet, so einfach und klar ist die Sprachgestaltung gehalten. Eva Schmidt bedient sich zwar nicht eines reduktionistischen Stils, aber sie forciert auch keine barock-überbordenden Beschreibungen. In ihren Schilderungen bleibt die Autorin stets hinter einer Glaswand.

Der Text scheint eine Art Experiment, ein Laborversuch zu sein. Durch die Wahldes unprätentiösen Tones treten tragische Schicksalsschläge freilich nur umso stärker in den Vordergrund. Fast schmerztes, die Figuren am Ende in ihr Leben – oder in ihren Tod – zu entlassen. Ein gelungenes Buch. ■

Eva Schmidt

Ein langes Jahr

Roman. 212 S., geb., € 20 (Jung und Jung Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)

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