Die Schlachten von vorgestern

Leise, links und leidenschaftlich: Hans Bürgers Gespräch mit dem Ökonomen Kurt W. Rothschild.

Zu Beginn des Buches irrt Hans Bürger gewaltig. „Einem echten Neoliberalen werden nicht alle, oder sagen wir ehrlicherweise, viele der Antworten wenig Lesefreude bereiten“, schreibt er. Erstens sind „echte“ Neoliberale mindestens so selten anzutreffen wie „echte“ Keynesianer. Zweitens gibt es wenig echtere Keynesianer als den 2010 verstorbenen Ökonomen Kurt W. Rothschild. In manchen Dingen war er, so meinen Zeitgenossen, keynesianischer als John Maynard Keynes selbst. Drittens ist Lesefreude relativ. Wer Keynes gelesen hat, für den ist so gut wie alles über ihn, was nicht von ihm geschrieben wurde, ein literarischer Leckerbissen. Wenn man Keynes für etwas verdammen muss, dann für seinen Schreibstil.

Dagegen liest es sich einfach gut, wenn zwei hervorragende Rhetoriker miteinander reden. Selbst für einen Liberalen. Das Gespräch zwischen Bürger und „seinem“ Volkswirtschaftsprofessor fand vor sieben Jahren statt. Es gliedert sich in 96 Fragen. Natürlich handelt es von Keynes und von der Krise. Und wem die Ursachenforschung zur aktuellen Wirtschaftskrise noch nicht durch sämtliche Poren gegangen ist, der bekommt noch einen kräftigen Aufguss. Wer dann immer noch nicht genug hat, zu dem passt auch der Titel: „Wir werden nie genug haben“. Weil wir nämlich so gierig sind, unterstellt der Journalist. „Gier ist keine Vokabel der Ökonomie“, antwortet der Ökonom.

Wer Bürger und Rothschild zuhört, erahnt aber vor allem viel über ein Stück österreichischer Wirtschaftsgeschichte. Diese hat nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg kaum einer stärker geprägt als Rothschild, der jüdische Sozialist, der vor den Nazis über die Schweiz nach Schottland flüchten musste. Zu seinen Schülern zählt nicht nur der stellvertretende TV-Chefredakteur im ORF, Hans Bürger, sondern auch wirtschaftspolitische Entscheidungsträger wie Nationalbank-Gouverneur Ewald Nowotny.

Chef des Austro-Keynesianismus

Rothschild gilt als Mitbegründer des sogenannten Austro-Keynesianismus. Er war „der Rote“ unter den heimischen Ökonomen. Klar zuzuordnen und auch von jenen geschätzt, die ihm ideologisch nicht nahestanden. „Einen Typ mit Charakter“ nennt ihn der frühere IHS-Chef Bernhard Felderer. Sogar Erich Streissler, Hayek-Schüler und quasi liberaler Gegenpart, zollt Rothschild Respekt, wenn er einst gemeint hat: Rothschild „kämpft die Schlachten von vorgestern“. Kein Satz könnte Rothschilds Einfluss auf die österreichische Wirtschaftspolitik treffender beschreiben. Schließlich schlägt man nach wie vor die Schlachten von vorgestern: großkoalitionär und sozialpartnerschaftlich.

„Der Kapitalismus wird weiterleben. Noch haben wir nichts Besseres gefunden. Vielleicht wird sich einmal die sogenannte Gemeinwohlökonomie durchsetzen. Aus heutiger Sicht eher nicht, was übrigens schade wäre“, schreibt Bürger am Ende in seinem „Essay zur verlorenen Zeit“. Für Rothschild ist Gemeinwohl bestenfalls eine „Frage des politischen Kompromisses“. Schlimmstenfalls führe die Gemeinwohlökonomie zurück zu Thomas Hobbes, „dessen Philosophie es gewesen ist, dass die Menschen immer einen starken Diktator brauchen werden, der ihnen aufzwingt, was sie zu tun haben“.

Aber zum Glück ist in Österreich heute vorgestern. Und deshalb können wir noch immer relativ gut damit leben, dass wir „in the long run“ alle tot sind. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2016)

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