Amnesie und Amnestie

„Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien“: Hellmut Butterweck dokumentiert anhand der Prozess-Berichterstattung in Zeitungen akribisch die Bandbreite der Verfahren gegen Nazis zwischen 1945 und 1955. Ein monumentales Quellenwerk.

Im Vorwort schreibt Oliver Rathkolb, dass „keine zeitgeschichtliche Arbeit zum Thema Nachkriegsjustiz über dieses monumentale Quellenwerk von Hellmut Butterweck wird hinweggehen“ können. Österreich hat nicht nur bis zur Waldheim-Affäre seine eigene Rolle an den Gräueltaten der Nationalsozialisten verdrängt, sondern auch die strafgerichtliche Aufarbeitung vieler Verbrechen durch die Volksgerichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Butterweck selbst betont in seiner Einleitung: „Der Grund für das tiefe Schweigen über ein an dramatischen Höhepunkten ebenso wie an beschämenden Fehlleistungen reiches Kapitel der österreichischen Nachkriegsgeschichte ist das weit verbreitete Nichtwissen, auch in den an Zeitgeschichte interessierten und sonst gut informierten Schichten, selbst unter Historikern.“

Es gibt zwar gute Übersichtsstudien mit entsprechendem statistischen Material, wie die von Generalanwalt Karl Marschall erarbeitete und 1977 publizierte offizielle Dokumentation des Justizministeriums, „Volks-Gerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich (1945–1972)“, oder die 2006 veröffentlichte Untersuchung von Thomas Albrich, Winfried R. Garscha und Martin F. Polaschek, „Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich“. Darüber hinaus gibt es zahlreiche und gut dokumentierte Einzelstudien und Dissertationen.

Verurteilt und begnadigt

Demgegenüber dokumentiert Butterweck in vielen Einzelfällen die gesamte Bandbreite der Verfahren vor dem Wiener Volksgericht zwischen 1945 und 1955, wobei sich seine Auswahl der Verfahren an der Wahrnehmungin der medialen Öffentlichkeit orientiert. Dokumentiert werden sämtliche Fälle, über die sich in einer zeitgenössischen Wiener Tageszeitung ein Bericht nachweisen lässt, aus dem zumindest der Name eines oder einer Angeklagten und der Spruch des Gerichts (Strafe oder Freispruch) hervorgehen. Der Autor hat seine Forschungen bereits in den 1980er-Jahren begonnen und 2003 eine erste Analyse in dem Buch mit dem Titel „Verurteilt und Begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter“ veröffentlicht.

Insgesamt haben die als Sondergerichte mit jeweils zwei Berufsrichtern und drei Schöffen eingerichteten Volksgerichte in Wien, Graz, Linz und Innsbruck zwischen 14. August 1945 und Ende 1955 nicht weniger als 23.477 Prozesse in NS-Strafsachen auf der Grundlage des Verbotsgesetzes und des Kriegsverbrechergesetzes durchgeführt. Dabei wurden 13.607Schuldsprüche gefällt, 43 Todesurteile verhängt (von denen 30 vollstreckt wurden), 30Verurteilungen zu lebenslanger Haft und 650 Verurteilungen zu Kerkerstrafen zwischen fünf und 20 Jahren.

Etwa die Hälfte der mit Schuld- oder Freispruch abgeschlossenen Anklagen (11.230 von insgesamt 23.477) wurde vom Volksgericht Wien verhandelt. Von diesen werden 840Prozesse mit insgesamt 1137 verurteilten oder freigesprochenen Angeklagten (also ein Sample von ungefähr zehn Prozent) von Hellmut Butterweck anhand der Presseberichterstattung akribisch rekonstruiert. Darunter fallen zum einen bekannte Fälle nationalsozialistischenMassenmords, aber auch viele Fälle gegen „alte Kämpfer“, kleinere Nazi-Funktionäre, Mitläufer und Denunzianten, die Licht auf den Nazi-Alltag mit all seinen Repressionen, Demütigungen, Grausamkeiten und Widerwärtigkeiten werfen. Durch die Darstellung dieser Prozesse in den damaligen Medien und die Wiedergabe der Zeugenaussagen zeigt sich auf der anderen Seite auch, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wiener Bevölkerung die Nazi-Herrschaft verabscheute und sich trotz der Gefahren und Repressionen traute, einen gewissen „kleinen“ Widerstand zu leisten.

In Butterwecks umfangreichem Quellenwerk stehen der Einzelfall und das Geschehen vor Gericht im Mittelpunkt, wie es von den Gerichtssaalreportern damals wahrgenommen wurde. Der Zugang zu dieser Quellensammlung wird einerseits durch umfangreiche Personenregister (Angeklagte, Opfer, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger) erleichtert, andererseits durch eine vergleichsweise kurze Einleitung und kurze Übersichten über die Fälle der jeweilige Jahre. Für den Leser ist es auch beeindruckend und zugleich beklemmend, einfach der chronologischen Reihenfolge entsprechend alle Fälle eines oder mehrerer Jahre durchzulesen und die gesamte Bandbreite der Nazi-Verbrechen in Wien wiederaufleben zu lassen.

Es beginnt mit der unfassbaren Brutalität, mit der ehemalige SA-Männer im März 1945 etwa 1600 ungarisch-jüdische Überlebende des Lagers Engerau nach Deutsch-Altenburg eskortierten, um sie als Zwangsarbeiter beim Bau des sogenannten Südostwalls einzusetzen, wobei vor allem Schwache und nicht mehr Marschfähige erschossen, erschlagen und erstochen wurden. Der erste Fall: 45W1, oder der Fall (45W20) eines ao. Universitätsprofessors für Chemie, der am 5. April1945, vier Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee, seine beiden Assistenten ermordete, da sie ihn daran hindern wollten, die kostbarsten und wichtigsten Apparate im ersten Chemischen Universitätsinstitut mit Hammer und Meißel zu zerstören, damit sie nicht in die Hände der Russen fallen sollten.

Oder der Fall des ehemaligen österreichischen Finanzministers und „guten österreichischen Beamten“ Dr. Rudolf Neumayer (46W15), der von der Regierung Schuschnigg ohne größere Bedenken in das Kabinett Seyß-Inquart wechselte, zu lebenslanger Haftverurteilt wurde, aber schon 1949 aus der Haft entlassen und 1951 amnestiert wurde, oder des ehemaligen SS-Hauptsturmführers Anton Brunner II (46W102), der von Butterweck als „zweiter Eichmann“ bezeichnet wird, weil er als besonders sadistischer Ressortleiter der im Herbst 1938 geschaffenen „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ für die Verschickung von mindestens 48.000 Wiener Juden in die Vernichtungslager des Dritten Reiches verantwortlich war und dafür mit dem Tod durch den Strang verurteilt und am 24. Mai 1946 hingerichtet wurde. Trotz erdrückender Beweise und erschütternder Zeugenaussagen leugnete er bis zum Schluss, wies jede Verantwortung und Schuld von sich und nahm die Urteilsverkündung mit eisiger Ruhe auf.

Ich könnte noch viele Beispiele aufzählen, die zeigen, wie spannend Gerichtssaalberichterstattung sein kann. Butterweck hat mit diesem Buch eine wichtige Lücke in der Aufarbeitung der in Wien begangenen Nazi-Verbrechen geschlossen. Auch wenn die Verurteilungsrate ab 1947 deutlich zurückgingund politisch in Österreich ein Trend einsetzte, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen zu verdrängen, so könnten diese Prozesse auch, wie Butterweck andeutet, als „Modell“ angesehen werden, auf das man in der strafrechtlichen Aufarbeitung von Verbrechen in Lateinamerika oder auf dem Balkan hätte zurückgreifen können. ■


Hellmut Butterweck stellt sein Buch am 14. April um 18.30 Uhr im Wiener Jüdischen Museum, Dorotheergasse 11, vor.

Hans Bürger

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2016)

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