Nur Narr! Nur Dichter!

Man spürt beim Lesen die Wut des Autors: „Don Quijote“ ist ein Buch gegen alle Bücher, eine Abrechnung mit der lügenhaft gewordenen Tradition eines abgelebten Ideals. Zum 400. Todestag von Cervantes: eine neue Biografie und ein zu entdeckender Roman.

Unstet und viel geprüft, vom Leben heftig hin- und hergeworfen war Miguel de Cervantes, Schöpfer des „Don Quijote“. Kaum einem anderen Dichter der Weltliteratur widerfuhr ein so wild zerklüftetes, gefahrenreiches, vor Demütigungen überquellendes Leben wie diesem Spanier. Mitten im Goldenen Zeitalter seines Landes 1547 geboren, fiel kaum etwas von dessen Glanz auf ihn. Stattdessen: Krieg, Verfolgung, Gefangenschaft, Folter, Entehrung. Schließlich ein erbärmliches, entbehrungsreiches Dasein als verarmter und verschuldeter Poet, der, vom feinen Volk verachtet, als einarmiger Veteran die Steuern bei erbosten Bauern eintreiben musste. „Nur Narr! Nur Dichter!“, heißt es bei Nietzsche.

Wie häuft sich so viel Unbill in einem einzigen Leben an? Einen Gutteil hat die Geschichte verschuldet. Die neue, rechtzeitig zum 400. Todestag des Dichters am 23. April erschienene Biografie des deutschen Romanisten Uwe Neumahr bietet dem Leser ein faszinierendes, detailreiches Panorama dieses von Glaubenskriegen und territorialen Machtkämpfen zerrissenen Lebens.

Der Schrecken des Jahrhunderts, in das Cervantes hineingeboren wurde, war der kriegerische Islam. Mit ihm wurde der Dichter bereits in seiner Jugend konfrontiert. Als er 1568, wegen eines Duells in Spanien gerichtlich verfolgt, nach Rom geflohen war, eskalierte die Auseinandersetzung mit den eroberungssüchtigen Türken aufs Neue. Nichtnur entlang des Balkans drangen sie mordend und brandschatzend gegen Norden vor. Das ganze Mittelmeer sollte sich der Herrschaft des Halbmonds unterwerfen.

Zögern christlicher Verteidiger

Die europäischen Mächte waren uneins, wie sie dem Ansturm aus dem Osten Widerstand leisten sollten. Frankreich verweigerte sich völlig. In Wien zögerte der Kaiser. Zwischen Spanien, Venedig und dem Papst schließlich, die eine Allianz christlicher Verteidiger schmiedeten, wurde um die Kosten jeder Galeere gefeilscht.

Inzwischen verschärfte sich die Situation. Die Grausamkeit der radikalen Glaubenskrieger kannte keine Grenzen. In Famagusta auf Zypern wurde der besiegte venezianische Kommandant Bragadin bei lebendigem Leib gehäutet. Seine Haut wurde mit Stroh ausgestopft und als Siegesbeute in Konstantinopel ausgestellt.

Dort prahlte Sultan Selim II., ein notorisches Großmaul, dass er sein Zelt bald auf dem Petersplatz in Rom aufschlagen werde. Auf seinem Flottenstützpunkt im griechischen Lepanto verfügte der osmanische Kommandant Ali Pascha über 250 Galeeren. Als gefürchtete Heißsporne standen ihm kampferprobte Janitscharen zur Verfügung: zum Islam konvertierte, elternlose junge Christen, die in Militärinternaten zu Elitetruppen herangezüchtet wurden.

Den 21-jährigen Cervantes, der sich am päpstlichen Hof als Kammerdiener eines Kardinals verdingt hatte, empörte der Defätismus des christlichen Europas. Als Papst Pius V. das Militärbündnis der Heiligen Liga zum Gegenangriff organisierte, schrieb er sich eilends in die Rekrutierungslisten ein.

Mit dem Sieg in der Seeschlacht vor Lepanto beendete Don Juan de Austria, Halbbruder von König Philipp II., als Großadmiral am 7. Oktober 1571 die osmanische Vorherrschaft im Mittelmeer. Dass er an dieser Schlacht teilgenommen hatte, hielt Cervantes stets für die entscheidende Leistung seines Lebens. Etliche Zeugnisse heben seine Tapferkeit in dem blutigen Getümmel hervor: Er habe „mit den Türken gekämpft wie ein Löwe“, gaben zwei Mitstreiter zu Protokoll. Cervantes wurde schwer verwundet: Er trug zwei Schussverletzungen im Oberkörper davon, und seine linke Hand wurde zerschmettert, sodass er sie zeitlebens nicht mehr gebrauchen konnte.

Das Gemetzel von Lepanto gilt bis heute als die Seeschlacht mit den höchsten Menschenverlusten: 35.000Männer fielen auf türkischer Seite, 8000 Opfer verzeichneten die Alliierten. Mehr als 100 Schiffe waren zerstört worden. „Vom Blut der Heiden und der Christen rot sah ich gefärbt das blaue Bett des Gottes; ich hörte jenes Lärmen, jenes Krachen und sah der Armen schweren Abschiedsblick, die zwischen Feuerstoß und Wasser starben“, schrieb Cervantes später aneinen Freund.

Neumahr zeichnet, gestützt auf neueste Forschung, ein höchst realistisches Schlachtenbild, das die Gräuel des Kriegs, die Verstümmelungen und Schmerzensschreie der Verwundeten nicht unterschlägt.

Im Folgenden nahm Cervantes von Italien aus an weiteren Seeexpedition teil, unter anderem 1573 an der Eroberung von Tunis. Auf der Heimreise nach Spanien wurde 1575 die Galeere, auf der sich neben Cervantes auch sein Bruder Rodrigo befand, knapp vor der katalanischen Küste von Seeräubern gekapert. Beide Brüder wurden nach Algier verschleppt und auf dem Sklavenmarkt dieser Piratenhochburg feilgeboten. 25.000 christliche Gefangene wurden dort festgehalten. Mit dem Versprechen von Hafterleichterungen versuchte man, sie für einen Übertritt zum Islam zu gewinnen. Auch Cervantes wurde wiederholt mit Angeboten zur Konversion konfrontiert. Die muslimischen Erpresser hielten ihn jedoch fälschlich für wohlhabend und versprachen sich daher ein hohes Lösegeld, was seine Gefangenschaft ungewöhnlich in die Länge zog. Trotz Ketten und Folterungen versuchte Cervantes binnenfünf Jahren vier Mal, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Schließlich gelang der Freikauf, durch Unterstützung der Familie und der Trinitariermönche.

Zurück in Spanien, suchte Cervantes vergeblich eine angemessene Anstellung. Ruhelos zog er über Land, da und dort eine Beschäftigung annehmend. In seiner Bedrängnis suchte er Zuflucht bei der Literatur, vorerst als Theaterschriftsteller. Er schrieb viel Unterschiedliches: Gedichte, Kanzonen, den Schäferroman „Galatea“. Vor allem aber Novellen: die „Beispielhaften Novellen“ gehören zu seinen Glanzstücken.

Erst spät nahm er sich, als er zum wiederholten Mal in Schuldhaft saß, sein Opus magnum vor: „Der sinnreiche Junker Don Quijote von la Mancha“. Dieses Wunderwerk der Erzählkunst ist ein Buch, aus dem mit einem Mal der ganze Menschheitskosmos der gesitteten wie der ungesitteten Hoffnungen, Glückserwartungen, Lustbegierden,der ungeheuerlichsten Traum-, Angst- und Schmerzerfahrungen herausquillt, kostümiert in sämtlichen Standeskleidern quer durch alle Gesellschaftsschichten des damaligen Spanien und doch lebenswarm durch das spürbare Pochen des Bluts, das hörbare Knurren der hungrigen Mägen und den riechbaren Schweiß so vieler Lebens-, Überlebens- und Todeskämpfe.

Nicht gleich ist man in diesen für die menschlichen Grunderfahrungen beispielhaften Schicksalsreigen mitgerissen. Anfangs wird in diesem Weltbewältigungsroman noch merklich unsicher eine Form gesucht. Der aus dem mittelalterlichen Heldenepos entwachsene höfische Ritterroman soll in seiner abwegig gewordenen Spätlingsmanier satirisch verhöhnt und durch den ungleich kraftvolleren Schelmenroman aufgefrischt werden: Gerade hat der „Lazarillo de Tormes“ diesen liebenswert lebensnahen Erzähltypus im Land populär gemacht.

Gestützt auf die Fülle seiner Erfahrungen wusste Cervantes: Wer zu spät kommt, den straft die Geschichte. Und zu spät kam längst das Ritterideal der spanischen Literatur: zerschellt am Riff der Wirklichkeit, die einen immer bedrängenden Alltag bereithielt. Dochdas ist Literaturgeschichte. Was man bald beim Lesen von Cervantes' Geschichtenreigen spürt, ist die Wut des Autors: Ein Buch gegen alle Bücher will er schreiben, Abrechnung halten mit der lügenhaft gewordenen Tradition eines abgelebten Ideals.

Mehr erlebt als viele andere Autoren

Cervantes weiß es besser: Er ist ein Mann jenseits des fünften Lebensjahrzehnts, der mehr als fast jeder Schriftsteller erlebt hat. Sage einer, die Kenntnis der Lebensgeschichte eines Dichters vertiefe nicht in den allermeisten Fällen das Verständnis des Werks. Im „Don Quijote“ ist geradezu von Geschichte zu Geschichte die allmähliche Identifikation des Figurenerfinders Cervantes mit seinem hilflos chevaleresken Helden und dem verschmitzt pikaresken Diener Sancho Pansa abzulesen, und solche Seelenverwandtschaft rührt von einem abenteuerreichen Dasein her. Schon Thomas Mann, der 1934 das Buchauf einer Atlantikfahrt nach Amerika gelesen und darüber in „Meerfahrt mit Don Quichotte“ berichtet hat, hat fasziniert die Erziehung des Autors durch seinen Helden beobachtet, und tatsächlich wird der enttäuschte Idealist Cervantes durch seinen Fabelvorkämpfer, den Geistesbruder eines Parzival, schön langsam von seiner Skepsis befreit, ja zur Bekräftigung eines idealistisch-humanen Weltbilds geführt.

Dem heutigen Leser indes bleiben jene Bilder am nachhaltigsten im Gedächtnis, in denen er Kennzeichnendes für die Gegenwart wiederfindet: etwa die Erzählung von der Vertreibung der Moriskenfamilie aus ihrem angestammten Land, in der Cervantes seinen Protest gegen die unmenschliche Ausweisungspolitik Philipps III. kundtat, die Juden und maurische Konvertiten betraf und bald in Antisemitismus und Rassismus mündete.

Mithilfe des Genussmittels Humor entwarf Cervantes ein umfassendes Gesellschaftsbild seiner Zeit. 1605 erschien der erste Teil des „Don Quijote“, 1615 der zweite. Da sich weder Ruhm noch Reichtum bei dem alternden Autor einstellte, arbeitete er mit Hochdruck an jenem Spätwerk, das er als den Höhepunkt seines literarischen Schaffens ansah: an dem christlichen Musterroman „Die Irrfahrten des Persiles und der Sigismunda“. Darin lässt er zwei junge Liebende aus dem hohen Norden unter den falschen Namen Periandro und Auristela quer durch Europa bis nach Nordafrika reisen, ehe sie einander nach vielen waghalsigen Irrfahrten in Rom finden und das Sakrament der Ehe empfangen können.

In diesem monumentalen Erzählwerk häufen sich die Überfälle, Schiffbrüche, Entführungen und Gefangenschaften. Trennungen und Wiedervereinigungen lösen sich ab, der Gegensatz von Barbarei und Zivilisation beherrscht die Binnenstruktur des Romans. Unter den unzähligen Episoden, die erzählt werden, berühren den Leser die Berichte von Fluchten, Vertreibungen und Asyl wegenihrer Frische und Empathie besonders.

Zum Vorbild nahm Cervantes den hellenistisch-byzantinischen Abenteuerroman „Aithiopika“ („Äthiopische Abenteuer“) des spätantiken Autors Heliodor, der sich bereits im Mittelalter großer Beliebtheit erfreute. Die schlanke, geschmeidige Neuübersetzung des „Persiles“ von Petra Strien erschließt dem deutschsprachigen Leser nach fünf Jahrzehnten dieses bedeutende Erzählwerk des Dichters neu. Eine Sensation! Der an Diabetes leidende Cervantes vollendete das Werk drei Tage vor seinem Tod. In der vorangestellten Widmung an den Grafen von Lemos heißt es: „Schon habe ich den Fuß im Bügel, / und ich schreibe, edler Herr, dies / da der Tod mir hält die Zügel.“ In der Nacht auf den 23. April1616 starb Cervantes. Er wurde 69 Jahre alt. Im Kloster der Barfüßigen Trinitarierinnen wurde er begraben. ■

Uwe Neumahr

Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben

Biografie. 394 S., geb., 28 Abb., € 27,80 (C. H. Beck Verlag, München)

Miguel de Cervantes

Die Irrfahrten von Persiles und
Sigismunda
Aus dem Spanischen übersetzt und mit Anmerkungen von Petra Strien. 500 S., geb. im Schuber, € 43,20 (Die Andere Bibliothek, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.