Jeder ist verdächtig

Isfahan im elften Jahrhundert. Dort lebt der Hof-Astronom, Kalenderreformer und Dichter 'Omar Chayyām. Seine Geschichte erzählt Dževad Karahasan in seinem Roman „Der Trost des Nachthimmels“. Ein großes orientalisches Epos – mit vielen Bezügen zur heutigen Welt.

Wüsste man nicht, dass das Wort „Text“ auch etwas zu tun hat mit „textur“, dem lateinischen Wort für „Gewebe“ – bei den Romanen von Dževad Karahasan käme man von selbst auf die Idee. Denn seine mit vielen Ornamenten geschmückten und aus schier unüberschaubaren Detailszenen zusammengesetzten Panoramen ferner Epochen weisen so viele feine und verschiedenartige Fäden auf wie ein orientalischer Teppich.

Sein jüngster Roman, „Der Trost des Nachthimmels“, spielt in der persischen Stadt Isfahan im elften Jahrhundert, und im Zentrum der kunstvoll verknüpften Erzählfäden steht der Hofastronom 'Omar Chayyām (1048–1131). Über diesen Kalenderreformer, der auch ein großer Poet war, wollte Karahasan schon lang schreiben, und etwa ein Jahrzehnt lang hat er das schließlich auch getan. Ein großes orientalisch anmutendes Epos ist daraus geworden – und trotz der Selbstverständlichkeit, mit der es in sich ruht, hat es viele Bezüge zur heutigen Welt.

Diese Bezüge wirken nicht gewollt oder aufgesetzt, sondern entstehen wie von selbst, wenn die Macht und das Eigenleben der Geheimdienste, der Terrorismus der radikalen Volksgruppe der Karmaten und die Macht eines in die Welt gesetzten Verdachts beschrieben werden. Das Buch lässt sich keineswegs in die Schublade historischer Roman stecken, und noch weniger will es eine Biografie von 'Omar Chayyām sein. Dennoch ist vieles an den opulenten und sinnlich-konkreten Details dieses Erzählteppichs offensichtlich genau recherchiert. Noch mehr als auf einzelne Fakten trifft das auf die Form der Diskurse zu, die hier geführt werden, und auf die komplexen, genau geregelten Sozialriten, deren Faszination man nicht entkommt, auch wenn sie einem fremd sind.

Das Seldschukenreich des elften Jahrhunderts hatte keine demokratischen Elemente, seine Gesellschaft war nach klaren Hierarchien gegliedert, die alle Umgangsformen bestimmten. Dennoch zeigt der Roman „Der Trost des Nachthimmels“ nicht nur die Fäden eines brutalen Machtgeflechts, an denen das Individuum baumelt, sondern auch eine Kultur des Gesprächs und der Zuwendung, die innerhalb des Gefüges von Konventionen und herrschender Ordnung möglich ist.

Diese Ordnung wird auf eine Weise aus der Natur heraus- oder in sie hineingelesen, die dem griechischen Kosmosdenken gar nicht so unähnlich ist. Besonders deutlich wird das in der titelgebenden Passage, in der Chayyām über den „Trost des Nachthimmels“ sinniert: „Wenn du den Nachthimmel lange genug beobachtest, begreifst du, dass jeder Stern unendlich weit vom nächsten entfernt ist, aber dass sie alle einem Gesetz unterliegen und dass dieses Gesetz ihre Einsamkeit aufhebt. Es verbindet sie, stellt Beziehungen zwischen ihnen her, es beginnt ein Gespräch unter ihnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. So muss es auch mit den Menschen sein, hatten er und Musaffer philosophiert.“

Musaffer ist Chayyāms Freund, und durch ihn ist er auch mit seiner Familie eng verbunden. Er verliebt sich in dessen Schwester Schirin und kommt gleichzeitig zu dem begründeten Verdacht, dass der Vater der beiden, dessen Sterben in einer unvergesslichen Romanszene breit inszeniert wird, durch vergiftetes Fleisch ermordet wurde. Die Überprüfung dieses Verdachts, mit der er beauftragt wurde, legt das komplexe Beziehungsgeflecht eines Harems offen und zeigt mit großer Präzision die destruktive Logik des Verdachts und wie diese zum Einfallstor für Observationen und Denunziationen aller Art werden und jeden Polizeiapparat legitimieren kann.

„Jeder ist verdächtig“, ist ein bewährter und effizienter Grundsatz aller Geheimdienste und Diktaturen. Der Sultan scheint das zu ahnen und lehnt, als sein Reich gefährdet ist, die Gründung eines Nachrichtendienstes ab. Doch als die Karmaten, deren Logik und Struktur heutigen fundamentalistischen Strömungen verblüffend ähnlich sind, das Reich bedrohen und es zu einem Krieg kommt, wird der Staat dennoch repressiv und seine Organe mutieren zu Folterern; auch die Sozialprogramme, die seinen Aufstieg und seine Identität ausgemacht haben, werden verraten. Im dritten Teil des Romans erzählt der greise Chayyām, zurückgekehrt in seine Heimatstadt Nischapur, sein Leben und steht vor den Trümmern einer Kultur und Lebensform; das Seldschukenreich ist zerfallen, eine Terrororganisation verbreitet Schrecken.

Dass Chayyām seine Lebensgeschichte einem jungen Bosnier erzählt, schafft die Brücke zu Teil drei des Romans, dem „Bekenntnisse aus der Asche“ überschriebenen grandiosen Finale. Darin aktualisiert Karahasan den alten literarischen Trick der Herausgeberfiktion auf spezifische Weise. Der Bosnier Juso Podžan Livnjak, der mittlerweile in Norwegen lebt, ist als junger Mann in der Bibliothek von Sarajewo auf die spätestens im Jahr 1200 verfasste Handschrift mit Chayyāms Lebensgeschichte gestoßen und hat sie transkribiert.

Am 25. August 1992 wurde die Vijećnica, die Nationalbibliothek von Bosnien und Herzegowina, im Krieg systematisch mit Phosphorgranaten beschossen, bis sie in Flammen aufging. Das hat Livnjak in eine tiefe Krise und jahrelange Stummheit gestürzt. „Ist das noch immer eine menschliche Welt, wenn kein Platz darin ist für all die Schwachsichtigen und Schüchternen, die lieber träumen und über die Welt nachdenken, als sie zu erobern und zu beherrschen?“, fragt sich der Mann, für den die Bibliothek immer eine Zuflucht war, und liefert in seiner „Nachbemerkung“ eine fulminante Apologie des Lesens. Er wagt sich schließlich an das Abenteuer, die Handschrift, die er etliche Male gelesen und mühsam transkribiert hat, aus dem Gedächtnis noch einmal aufzuschreiben. Livnjak hat also, so die Fiktion, als Alter Ego des Autors, diesen Roman eigentlich aufgeschrieben.

Ein besonderes Juwel dieser fingierten Rekonstruktion ist das „Bekenntnis“ jenes Mannes, der einst Chayyams Lebensgeschichte aufgeschrieben hatte und sich „der alte Vukac aus Bileševo“ nannte. Er war überzeugt, „dass das, was ich über Chayyām aufgeschrieben habe, mich ausdrückt und genauer und wahrer Auskunft über mich gibt als alles, was ich direkt von mir erzählt hätte“.

Wichtiger als die Vermutung, dass das vielleicht auch für den 1953 in Bosnien geborenen Romanautor Dževad Karahasan gilt,ist das Bauprinzip des Romans, das damit angesprochen ist: Es gibt keine Romanhelden im eigentlichen Sinn und keinen Erzählstandpunkt außerhalb des Geschehens. Die Erzählfäden sind zu einem Teppich mit unzähligen Detailszenen verwoben, aber der Weber hat kaum Spuren hinterlassen. ■

Dževad Karahasan

Der Trost des Nachthimmels

Roman in drei Teilen. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grieshaber. 722 S., geb., € 27,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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