Balkanische Verhältnisse

Wiederentdeckung: Panait Istratis Roman über eine multikulturelle Gesellschaft.

Sie singen armenische, griechische und türkische Lieder und sprechen ebenso viele Sprachen. Es sind „Muselmanen“ und Christen, Arme und Reiche, Vagabunden, schöne Frauen, „Krapfensieder“ und „ehrbare Strolche“.

Panait Istrati hat den Menschen „aufs Maul geschaut“ und beschreibt eine archaische Gesellschaft, die staatliche Autorität nicht beachtet und nach uralten Gesetzen lebt: enge Familienbande, Männlichkeitswahn, Prügel für Frau und Kinder, ausgelebte Homosexualität, meist von Autoritäten erzwungen. Sehr junge Mädchen wurden in türkische Harems entführt, und sehr junge Burschen wurden als „Spielgefährten“ von türkischen Mustafas-Beys gefangen gehalten.

Sie hatten keine Chance zu entfliehen, so auch Kyra, das zauberhafte junge Mädchen. Istrati zitiert einen solchen Verführer: „Weißt du denn nicht, dass alles, worauf der Türke einmal die Hand gelegt hat, selbst vom Herrgott im Stich gelassen wird?“ Der Mensch, so Istrati, entkommt seinem Schicksal nicht. Fatalismus, „wie Gott will“, ähnlich wie in der griechischen Tragödie. Dabei wunderbare, kraftvolle orientalische Erzähltradition, die ihren Ausgang in der rumänischen Stadt Braila, einem Hafen an der Donau, nimmt. Die Donau – auch ein Mythos, der Länder und Menschen verbindet.

Panait Istrati, 1884 in Braila (Rumänien) geboren, wird gern „Gorki des Balkans“ genannt. Er schrieb in Rumänisch und Französisch. Aber weder die rumänische noch die französische Literaturgeschichte räumte ihm zu seiner Zeit einen Ehrenplatz ein, obwohl seine Werke in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden sind. Istrati war literarisch nicht einzuordnen.

Eigentlich wollte sich der uneheliche Sohn einer rumänischen Wäscherin und eines griechischen Kaufmannes aus Kefalonia, ewig auf Wanderschaft und immer zwischen allen Stühlen, umbringen. Doch ein Brief des französischen Literatur-Nobelpreisträgers Romain Rolland ermunterte ihn, zu schreiben. Romain Rolland wurde ein Bewunderer und verfasste auchdas Vorwort für den 1923 erschienenen Roman „Kyra Kyralina“. Er wurde kurz nach Erscheinen ein internationaler Erfolg, vielfach übersetzt und verfilmt.

Zauber orientalischer Märchen

Was aber könnte Leserinnen und Leser an diesem Roman faszinieren? Ist es die multikulturelle Gesellschaft, der Zauber orientalischer Märchen, die der ewige „Vagabund“ Istrati beschreibt? Ist es die Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit? Ist es das, wie der rumänische Autor und Träger des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur 2015, Mircea Cartarescu, in seinem Nachwort beschreibt, „multikulturelle Klima, die Überwindung der Grenzen zwischen den Ethnien, Sprachen und Nationen“? „Verdankt sich“, so Cartarescu, „der Erfolg der Exotik seiner Stoffe? Gehört Panaits Werk tatsächlich zur hohen Literatur – oder ist es vielmehr ein Beispiel für populäre Unterhaltungsliteratur?“ Für Mircea Cartarescu scheint diese Frage bedeutungslos, denn „Istrati kümmerte nicht eine literarische Stimmigkeit, sondern das Maß der menschlichen Wahrheit, wie es sich im Schreiben zeigt“.

Für die Rezensentin bedeutet dieses Buch Neugier und Lust auf einen Teil von Europa, einen Teil der Europäischen Union, der immer noch viel an Tradition und scheinbar verloren gegangener Kultur zu bieten hat. „Kyra Kyralina“ gehört – auch in der wunderbaren Übersetzung von Oskar Pastior – zur europäischen Literaturgeschichte. ■

Panait Istrati

Kyra Kyralina

Roman. Aus dem Rumänischen von Oskar Pastior. 160 S., brosch., € 18,40 (Wagenbach Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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