Die Zeit von allen Seiten

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: In seinem Panorama der „Zeit“ zeigt Rüdiger Safranski, dass diese vertrauten Vorstellungen auf seltsame Weise schillern. Man kann die Zeit auch als eine „Furie des Verschwindens“ sehen.

Der Philosoph und Autor Rüdiger Safranski hat mit seinen Biografien ein Panorama deutscher Geistesgeschichte entworfen. Sein neues Buch ist auch eine Biografie über Leben und Werk der Zeit: Wie sie in uns lebt und wirkt. Entziehen sich schon die von Safranski porträtierten Autoren und Philosophen – vor allem Heidegger und Nietzsche – in vielen Teilen ihres Lebens und Werks unserem Zugriff, so ist dies geradezu das Wesen der Zeit: ganz gegenwärtig zu sein und uns doch beständig zu entgleiten. Gleich mehrfach nennt sie Safranski eine „Furie des Verschwindens“.

Mit vielen Verweisen auf Autoren und Philosophen, die sich dem Phänomen der Zeit gewidmet haben, versucht er, dem höchst eigenen Charakter der Zeit auf die Spur oder, wenn man so will, auf die Schliche zu kommen: eben noch gegenwärtig gewesen zu sein, Augenblicke später schon vergangen zu sein und dem gerade noch Zukünftigen als Momentanem jetzt Platz gemacht zu haben; auch dies nur vorübergehend.

Es stellt sich die Frage, ob man von der Zeit überhaupt mit Recht sagen kann, dass sie ist, dass ihr ein Sein zugesprochen werden kann. Rüdiger Safranski ruft gleich zu Anfang seines Buches zwei Zeugen auf, die Kunde geben von dem Rätsel der Zeit. Hugo von Hofmannsthal: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ Und der heilige Augustinus: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht.“ In diesem Zwiespalt befindet sichnatürlich auch derjenige, der ein Buch über die Zeit schreibt: Er fasst sie, und er verfehlt sie, sie ist rein gar nichts, und sie ist alles, sie ist ein Nichts, und sie ist ein Sein.

Hat diese Spannung, so fragt man sich als Leser, für den Autor etwas Anfeuerndes, Belebendes, Euphorisierendes gehabt, oder hat ihn diese Doppelexistenz der Zeit eher verzweifeln lassen, zumindest immer wieder beim Schreiben entmutigt?

Safranski hat sein Buch in zehn Kapitel gegliedert: „Zeit der Langeweile“, „Zeit desAnfangens“, „Zeit der Sorge“, „Vergesellschaftete Zeit“, „Bewirtschaftete Zeit“, „Lebenszeit und Weltzeit“, „Weltraumzeit“, „Eigenzeit“, „Spiel mit der Zeit“, „Erfüllte Zeit und Ewigkeit“. Ist diese Gliederung einsichtig? Woran ist sie orientiert? Wären die Kapitel auch beliebig austauschbar – angesichts der Zeit als Furie, als eines sich beständig entziehenden Phänomens? Denkt man die Zeit als eine chronologische Abfolge, beginnt man dann mit der „Weltzeit“ oder der „Weltraumzeit“? Im Leben des Einzelnen beginnt die Zeitrechnung freilich viel eingeschränkter: mit der Zeugung und der Geburt.

Hier ist bereits eine Klippe verborgen: Kann man überhaupt die Lebenszeit auf die Weltzeit hin verlängern? Oder sind das nicht ganz verschiedene Vorstellungen von Zeit? Die Lebenszeit hat einen Anfang und ein Ende. Aber führt von hier ein Weg zur naturwissenschaftlichen Annäherung an die Zeit? „Womöglich ist die Zeit überhaupt nur ein Vordergrundphänomen. Aber auch während Theorien über den angeblich illusionären Charakter der Zeit entwickelt werden, vergeht die Zeit.“

Solche Formulierungen machen die enorme Schwierigkeit deutlich, der sich der Verfasser des Buches gegenübergesehen hat:Auch wenn er eine Vorstellung von der Unfassbarkeit der Zeit und den Theorien der modernen Physik hat, möchte er doch am Alltagsverständnis der vergehenden Zeit festhalten. So gesehen kann der Obertitel der Studie „Zeit“ von Safranski gar nicht vollständig eingelöst werden.

Analog dazu, wie er in seinen Biografien die Wirkungsgeschichte der porträtierten Schriftsteller erörtert hat, so beschreibt er auch die Zeit: „Was die Zeit mit uns macht, und was wir aus ihr machen.“

Auffällig ist, wie wenig Raum die Physik in diesem Buch einnimmt. Wäre der Titel nicht „Zeit“, sondern etwa „Zur Wirkungsgeschichte der Zeit“, würde man dies gar nicht erwarten. Bei näherem Hinsehen aber doch, denn ohne die Erkenntnisse der modernen Physik, der Relativitätstheorie, Astrophysik, Teilchenphysik und Quantentheorie über die Zeit wäre die heutige Technik, die unser gesamtes Leben bestimmt, in vielen Bereichen überhaupt nicht denkbar.

Es handelt sich also nicht um theoretische Spezialgebiete zum akademischen Verständnis der Zeit. Diese Erkenntnisse wirken vielmehr in der Mitte unseres Alltags. Wer glaubt, die modernen Physiker gäben sich überheblich und omnipotent, irrt gewaltig. Sie gestehen ein, dass sie vom Universum, von Raum und Zeit gerade einmal fünf bis zehn Prozent verstünden. „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“ Safranski zitiert Albert Einstein mit diesem Bekenntnis und spricht von dessen Einsichten als dem „nach Newton bedeutendsten Einschnitt im physikalischen Verständnis von Raum und Zeit“. Hier aber ist die Physik nicht stehen geblieben.

Man hat Safranski bei der Besprechung dieses Buches abschätzig einen „Zitatmeister aus Deutschland“ genannt. Auch wenn sich streckenweise seine Darstellung entlang von Zitaten entwickelt, dienen diese doch immer einer anschaulichen Erzählung, einer Erzählung, die in diesem Buch vom Wissen des Autors zehrt. Leichtfüßig kann er auf all das zurückgreifen, was er sich in seinen Studien über die Romantiker, über Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer erarbeitet hat. Das ist die Stärke dieses Buches: wie literarisch, literaturgeschichtlich und philosophisch zugespitzt erzählt wird – von der Zeit der Langeweile, der Zeit des Anfangens, der Zeit der Sorge und vieler anderer Vorstellungen.

Nach der Lektüre des Buches und vor allem auch des Finales über „Erfüllte Zeit und Ewigkeit“ fragt man sich erneut, wie es wohl dem Autor beim Schreiben angesichts des selbst gewählten anspruchsvollen Titels ergangen ist. Hätte er am Ende doch lieber die Selbstbeschränkung auf literarische und philosophische Aspekte der Zeit gewählt? Vielleicht auch das Sich-Einlassen auf eigene Lebenserfahrungen im Umgang mit der Zeit? Oder eine Vertiefung der zum Schluss angedeuteten Praktiken der Hingabe, des hingebungsvollen Verweilens in der Kunst und Meditation – und der Liebe? ■

Rüdiger Safranski

Zeit

Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. 272 S., geb., € 25,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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