Wer schützt den Bürger?

Die Freiheit, so Harald Welzer in seiner Analyse „Die smarte Diktatur“, ist heute radikal gefährdet: durch ökologischen Stress, durch räuberische Formationen, durch autokratische Regierungsformen, durch Überwachung und durch Hyperkonsum. Ein Aufruf.

Harald Welzer beginnt sein Buch über die „smarte Diktatur“ mit der Erzählung eines Vorfalls, bei der ihm ein Polizist wider Erwarten hilfreich zur Seite gestanden ist, obwohl er im Unrecht war. Daraufhin änderte das einstige Mitglied einer „Anti-Kernkraft-links-alternativ-Punk-Clique“ (man beachte die wohlfeile Selbstironie des geläuterten Professors) umgehend seine Meinung über die Polizei und sein Weltbild.

Das Problem ist nur, dass ein Einzelfall nichts beweist. Es gibt gewiss freundliche und sogar antiautoritäre Polizisten, aber es gibt auch Polizisten, die Demonstranten mit dem Knüppel auf den Kopf schlagen. Der Publizist Jürgen Roth hat kürzlich erklärt, der NSU sei von Institutionen geschützt worden, die dessen Opfer vor dem NSU zu schützen hätten. Wer nicht will, muss Roth nicht glauben. Aber kann er ihn widerlegen? Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass staatliche Institutionen mit politischen Verbrechern gemeinsame Sache machen. Wer sich nach den freundlichen oder nach den knüppelnden Polizisten sein Weltbild konstruiert, erliegt dem gleichen Irrtum: dass er verallgemeinert, was sich nicht verallgemeinern lässt.

Verallgemeinerung aber ist die Voraussetzung für eingängige Thesen, und diese wiederum sind die Voraussetzung für einen Bestseller. Sie reduzieren eine komplexe, widersprüchliche Realität auf eine überschaubare, leicht zu memorierende Erklärungs- und Verhaltenshilfe, mit der sich das Leben vermeintlich meistern lässt. Etwa wie in der folgenden als unzweifelhafte Wahrheit verkleideten Meinung: „Man hat eine freiheitliche Ordnung dann verstanden, wenn man erfährt, dass es Institutionen gibt, die dafür da sind, einen als Staatsbürger gegen Willkür, Beleidigung, Gewalt zu verteidigen.“ Haben jene, die erfahren mussten, dass solche Institutionen tatenlos zusehen, während ihnen Gewalt angetan wird, weniger von der „freiheitlichen Ordnung“ verstanden als der Ex-Punk, der unvorsichtig aus einer Parklücke gefahren ist?

Ein weiteres Rezept für die Herstellung von Sachbuchbestsellern haben uns die Amerikaner schon lang verraten: Statt kontinuierlich zu argumentieren, hangelt man sich von Anekdote zu Anekdote oder, für Leseschwache, wie der 1958 bei Hannover geborene Soziologe und Sozialpsychologe Welzer von Bildchen zu Bildchen.

Dabei hat Welzer ja in vielem recht. Zum Beispiel in seiner Kritik der sozialen Netzwerke, die gemeinhin als Errungenschaft propagiert wird und deren Gefahren in der öffentlichen Diskussion – nicht zuletzt in ebendiesen sozialen Netzwerken – unterschlagen werden. Zu Recht räumt Welzer mit der Legende auf, dass Kapitalismus Demokratie bedeute: „Kapitalismus funktioniertohne Demokratie, besonders dann, wenn sich keine Zivilgesellschaft entwickelt.“ Welzer hat recht mit seiner Kritik an der NSA. Wobei der Autor offenbar wenige Seiten nach seiner Einleitung bereits vergessen hat, dass auch sie, genau wie die Polizei, vorgibt, die Staatsbürger gegen Gewalt zu verteidigen. Vielleicht ist es so. Dann aber wäre Welzers Kritik unberechtigt, dann wäre die NSA ein Garant der freiheitlichen Ordnung. Man sieht: Ohne Differenzierung und Skepsis kommt man da nicht weiter.

Diesen Einwand hat Welzer wohl vorausgesehen. Deshalb schreibt er: „Denn im Angesicht der Komplexitätsbehauptung werdenalle politischen Katzen grau, und jedes Interesse, jedes Machtkalkül kann sich hinter der angeblich allumfassenden Komplexität verstecken.“ Diese Ausrede ist selbst unterkomplex. Dass sich Machtinteressen hinter der (angeblich?, also in Wahrheit nicht) allumfassenden Komplexität verstecken, bedeutet nicht, dass sie nicht existiert.

Worauf Welzer hinauswill, wenn er sich anschickt, „das Einfache zu betonen“, ist der Zusammenhang von Ökologie und Digitalisierung, und hier wird sein Buch auch am interessantesten. Zu Recht mahnt Welzer, dass man ökologische Fragen nicht losgelöst von ökonomischen Fragen, Finanzkrisen nicht abgetrennt von Bürgerkriegen sinnvoll diskutieren könne. Er fordert nicht nur die Zusammenschau von Ökologie und Ökonomie, er macht sie auch exemplarisch vor.

Harald Welzer gehört mit seinen 58 Jahren zu einer Generation, deren intellektuelle Sozialisation in jenen Jahren stattgefunden hat, in denen die ökologischen und die feministischen Debatten das Interesse am Marxismus abzulösen begonnen haben, jener aber noch im Gespräch geblieben ist (das Verlagsprogramm von Suhrkamp, das in Welzers Bibliografie markant vertreten ist, liefert dafür einen guten Beleg).

Eingeschoben zwischen die anekdotischen Fallbeispiele ist eine – zugegeben: bewundernswert locker geschriebene – Kurzfassung von Foucaults vier Jahrzehnte altem Werk „Überwachen und Strafen“. Auf einem Drittel des Weges erreicht Welzer dann jenes Stichwort, das der Untertitel seines Buchs ankündigt: die Freiheit. „Diese Freiheit“, erklärt der Autor, „die Handlungsspielräume eröffnet und zugleich für ihre Verteidigung braucht, ist heute radikal gefährdet – durch ökologischen Stress, durch räuberische Formationen, durch autokratische Regierungsformen, durch Überwachung und durch Hyperkonsum.“ Die Konsumkritik, die ein wenig aus der Mode geraten ist oder vielmehr von jenen, die verkaufen wollen, aus der Mode gebracht wurde, gelangt bei Welzer zu neuen Ehren, wobei er sich mit dem Begriff „Hyperkonsum“ absichert. („Alles mitMaß und Ziel“, mag da mancher denken, der sich die Freuden des Shoppings nicht nehmen lassen möchte.)

Harald Welzer schreibt: „Im 20. Jahrhundert waren die Denkerinnen und Denker davon überrascht, wie der Totalitarismus wider alle bürgerliche Erwartung eine so große psychische Anziehungskraft entfalten konnte. Heute kommt er anders daher, der Totalitarismus, er behauptet, die höchste Form der Individualisierung und der Friedfertigkeit darzustellen, die maximale Bequemlichkeit und die größte Entfernung von Aufwand und Anstrengung. Dieser Totalitarismus kommt daher als ursachenlose Welt, in der für alle gesorgt ist.“ Aber Welzer ist kein absoluter Pessimist. Er glaubt an die Möglichkeit des Widerstands und gibt sogar eine „Gebrauchsanweisung zur Erzeugung von Systemstörungen“.

Gegen Ende kommt Welzer etwas überraschend auf die Flüchtlinge des vergangenen Jahres zu sprechen. Er sieht in ihnen eine Chance für Europa. Ein Problem seien sie „nur dann, wenn man zu einer Gemeinschaft von Nationalstaaten gehört, von denen sich die meisten trotz gegenteiliger völkerrechtlicher Vorgabe unsolidarisch verhalten und einseitig die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern“. Und er lobt die Zuversicht, mit der eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands zunächst der Auffassung war, „dass ein reiches Land wie die Bundesrepublik die Integrationsaufgabe bewältigen könne“. ■

Harald Welzer

Die smarte Diktatur

Der Angriff auf unsere Freiheit. 320 S., geb., € 20,60 (S. Fischer, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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