Wir – sind zumindest drei

Thomas Glavinic hantiert in seinem Roman „Der Jonas-Komplex“ mit vertrauten Personen. Der Vorsatz des Ich-Erzählers, „Teflonprosa“ zu vermeiden, gilt auch für den Autor. So mischt sich Mut zum Risiko mit Redundanz.

Wer als Autor mit vertrauten Personen hantiert, hat es leichter. Nein, nicht unbedingt mit dem eigenen Ich, das man so gut zu kennenmeint, sondern besser mit selbst ausgedachtem Personal, dessen Existenz sich über mehrere Bücher hinweg fortspinnen lässt. Jonas und Marie etwa, die zum Inventar in Thomas Glavinic' Büchern gehören. Gerade noch, in „Das größere Wunder“, hat man ihnen zugesehen, wie sie sich am Aufstieg des Mount Everest versucht haben, und nun – eine üppige Erbschaft macht es möglich – wollen beide auf den Spuren von Roald Amundsen und Robert Scott die nächste Grenzerfahrung machen und zum Südpol gelangen.

Diese Expedition ist einer von drei Handlungssträngen, die Glavinic' neuen Roman strukturieren. Neben den Südpol-Abenteurern werden der 2015 in Wien lebende Ich-Erzähler, Jahrgang 1972 wie sein Autor, und seine jugendliche Version, die ihn als 13-Jährigen in der Weststeiermark zeigt, zu Protagonisten des weitschweifigen Buches. Zwischen diesen Orten und Zeiten springen die in der Gegenwartshandlung genau ein Jahr umspannenden Kapitel hin und her und scheinen das umsetzen, was bereits im ersten Romanabsatz als eine Art Gebrauchsanweisung mitgeliefert wird: „Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten.“

Unter einem Jonas-Komplex versteht die Psychologie, auf die biblische Figur des vom Wal verschlungenen Jonas zurückgreifend, die menschliche Neigung, auf Herausforderungen zuerst verhalten zu reagieren und sich selbst eher wenig zuzutrauen. Vor allem Glavinic' Ich-Erzähler ist es, der solche Kämpfe auszufechten hat. Als Jugendlicher wächst er in bescheidenen Verhältnissen bei seiner Pflegemutter Uriella auf, die dem Alkohol eifrig zuspricht, wechselnde Liebhaber nach Hause bringt und ihren Zögling sexuell bedrängt. Vergeblich hofft dieser darauf, dass ihn sein kroatischer Vater nach Berlin mitnimmt. Zuspruch findet er beim Schachspiel, das er meisterhaft beherrscht, und bei seiner Großmutter Suux, deren Porträt zum Besten gehört, was Glavinic in diesem Roman zuwege bringt.

Mühsamer ist es, den offenkundig autobiografisch bestimmten Wegen des erwachsenen Erzählers zu folgen. Dieser – ein anerkannter, mit seinen Einkünften fahrlässig umgehender Schriftsteller – zieht zechend durch Wiener Cafés, ist ohne Kokain nicht lebensfähig und sucht sich in Sex-Exzessen von seinem psychischen Chaos abzulenken, was ihn zu der erstaunlich dürftigen Erkenntnis bringt, dass seine Matratzeneskapaden eine „schlichte Form der Liebessuche“ seien. Begierig darauf, aus dem Wiener Teufelskreis auszubrechen, nimmt er ein Writer-in-Residence-Angebot an, macht sich mit seinem Sohn – von dessen Mutter ist er längst getrennt – nach Manhattan auf, wo er mit dem dezenten Kollegen Daniel durch Bars zieht und aufwendige Restaurantrechnungen begleicht. Diesen weltberühmten Schriftsteller, der gern davon Mitteilung gibt, dass er mit noch weltberühmteren Größen wie Tom Stoppard oder J. M. Coetzee auf Du und Du ist, mit Daniel Kehlmann, der kaum fiktionalisierten Figur aus Glavinic' „Das bin doch ich“ (2007), gleichzusetzen ist sicherlich erlaubt – wenngleich wenig gewonnen.

Offen gesagt: Glavinic' „Jonas-Komplex“ lässt sich manches abgewinnen, sofern man gewillt ist, die Dauerkrise seines Helden als autobiografisch zu lesende Auseinandersetzung mit sich selbst zu deuten – ganz so, als hätten wir es mit einem österreichischen Karl-Ove-Knausgård-Ableger zu tun. In dieser Perspektive, zu deren Einnahme Glavinic einerseits auffordert, ehe er sie in Interviews andererseits zurückweist, gewinnt dieses Ringen mit den eigenen Unzulänglichkeiten einen existenziellen Ernst. Nichts will der Erzähler verschweigen; wenn er es etwa mit einer Swingerin treibt, die aus ihrem Hang zur Zoophilie keinen Hehl macht, bleiben selbst diese Szenen dem Leser nicht erspart.

Da geraten Autor und Erzähler in eins; da versteht man, warum Glavinic – wie seine deutschen Kollegen Stuckrad-Barre oder Biller – ein beliebtes Objekt für „hautnahe“ Autorenporträts wird und ehrfurchtsvoll von bürgerlich soliden Feuilletonisten als „Berserker“ und „Hochrisikoautor“ bewundert wird. Auf keinen Fall, so Glavinic' Alter Ego, wolle er „Teflonprosa“ schreiben, „gefällige Geschichten kluger kühler Menschen, die nie ein Risiko eingehen würden“. Nein, Glavinic will suggerieren, dass auch er aus anderem Holz geschnitzt ist und keine Rücksicht auf sich und andere nimmt.

Sagen wir es noch offener: Diese demonstrative Haltung reicht, zumindest im „Jonas-Komplex“, nicht aus, um einen überzeugenden Roman zustande zu bringen. Jonas' und Maries Südsee-Tour wirkt wie ein blasses Remake des Mount-Everest-Wagnisses, und auch in den steirischen Kindheitserinnerungen schleichen sich ermüdende Wiederholungen ein, die alles Beeindruckende der Schilderungen schmälern. Redundant und mitunter erschütternd banal gerät der „Jonas-Komplex“ jedoch erst in seinem Gegenwartsstrang. Ein langes Jahr müssen wir dem Erzähler dabei zuhören, wie er das Weltgeschehen betrachtet und mit verblüffend schlichten Kommentaren versieht.

Der Umgang der Deutschen mit Flüchtlingen zieht die simple Betrachtung „Das wird noch lustig werden für Deutschland“ nach sich. Sätze wie „Airbnb ist einer der Errungenschaften unserer Jahre, mit denen ich mich anfreunden kann“, „Inseln sind zauberhaft. Inseln und Berge machen etwas mit mir“ sind keine Ausrutscher, sondern gehören zum Prinzip dieses stilistisch nachlässigen Romans, der auf Geschwätzigkeit setzt und um viele Seiten zu lang gerät. Nicht alles,möchte man dem Autor zurufen, was einem durch den Kopf rauscht, muss zu Papier gebracht werden. Wem zum Anblick der „Lichter von Manhattan“ nicht mehr einfällt als „Dieser Anblick. Diese Stimmung, diese Größe, diese Weite“ hat vergessen, dass ein Roman mehr als die Ausbreitung einer Notizsammlung ist. Diese Lässigkeit macht den Roman leider zu einem Ärgernis – ein Umstand, dem auch mit der rührenden Sentenz „Den kleinen Buchhändler, den werden wir noch ewig brauchen“ nicht abzuhelfen ist. ■

Thomas Glavinic

Der Jonas-Komplex

Roman. 752 S., geb., € 25,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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