Lieber ein Haus als Freiheit

Originell: Lydie Salvayres Auto-Bio-Doku-Fiktion aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

In seinem zwischen Nacherzählung und Rekonstruktion pendelnden Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ erzählte Hans Magnus Enzensberger 1972 von Leben und Tod einer Schlüsselfigur der spanischen Revolution des Jahres 1936: Buenaventura Durruti. Dieser spielt nun auch eine Schlüsselrolle in dem 2014 mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneten Roman „Weine nicht“ der französischen Autorin Lydie Salvayre, allerdings die eines fernen Echos, das über die Zeiten zu hören ist, weil seine anarchistische Politik der Hauptfigur des Romans, Montse, einst einen unvergesslichenSommer der Freiheit beschert hat.

„Sie sieht sehr bescheiden aus.“ Dieser Kommentar des reichen Großgrundbesitzers Don Jaime Burgos erzürnt die 15-jährige Montse, die sich als „gehorchsames“(sic!) Hausmädchen vorstellen soll, über die Maßen. „Es ist mir egal, ob man mich hört, ich will nicht Mädchen für alles bei den Burgos sein, lieber werde ich Hure in der Stadt.“ Teenager-Rebellion anno 1936: 90-jährig erzählt Montse 2011 dieses Abenteuer ihres Lebens ihrer Tochter, der Autorin Lydie Salvayre.

„Ich möchte in die Erzählung, die ich hier beginne, keine fiktive Person einführen. Meine Mutter ist meine Mutter, Georges Bernanos ist der bewunderte Autor der Großen Friedhöfe unter dem Mond, und die katholische Kirche ist die niederträchtige Institution, die sie 1936 war.“ Es ist diese Parallelmontage der Schilderungen der Jugenderlebnisse Montses mit dendokumentarischen Beschreibungen des Terrors des Franco-Regimes in Bernanos Buch, das Salvayres Roman aus der Masse der Historienromane heraushebt.

Georges Bernanos, erzkatholisch und politisch national, erlebte die hasserfüllten Massenmorde der Falange-Truppen auf Mallorca hautnah mit. Er konnte nichtanders, als über seinen nationalkonservativen Schatten zu springen und der Welt von den Gräueltaten zu berichten. Ein mutiges Unterfangen, das für ihn nicht ohne Konsequenzen blieb und ihn dazu zwang, Spanien zu verlassen.

Die Kunst der Besitzlosigkeit

Montse erlebt unterdessen im Sommer 1936 die große Freiheit in Barcelona, wohin sie mit ihrem anarchistisch eingestellten Bruder José geflohen ist. Die großen Worte „Freiheit, Revolution, Brüderlichkeit und Kommune“ werden in die Tat umgesetzt, und das Paradies der „Kunst der Besitzlosigkeit“ ist spürbar. In diesem Schwindel der Gefühle erlebt sie die erste und große Liebe des Lebens – und kehrt bald schwanger in ihr Dorf zurück. Dort lässt sie sich aus Gründen der Moral ausgerechnet mit dem großen Widersacher ihres Bruders verheiraten, dem jetzt stramm kommunistischen Sohn des Großgrundbesitzers Burgos.

Die Schilderungen der politischen Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Kommunisten im Dorf pendeln zwischen Ironie und Tragik. Letztlich sind den Hinterwäldlern „ihre bescheuerten Ziegen, ihr schäbiges Haus“ aber lieber als alle (auch sexuellen) Freiheiten. 1939 verlässt Montse ihr Dorf und lebt seither im französischen Exil.

Was Salvayres Buch so besonders macht, ist der ganz spezielle Sprachduktus der Mutter, deren holpriges Französisch neben unterhaltsamen Verballhornungen auch mit spanischen Schimpfwörtern durchsetzt ist. Diese Hispanismen einer leicht dementen Teenager-Pasionaria, in denen sich auch die sprachlichen Leiden einer Exilantin widerspiegeln, verbessern zu wollen ist nur einer der Genüsse dieser originellen und vergnüglich zu lesenden Auto-Bio-Doku-Fiktion. ■

Lydie Salvayre

Weine nicht

Roman. Aus dem Französischen von Hanna van Laak. 252 S., geb., € 20,60 (Blessing Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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