Musste es so kommen?

1943 veröffentlichte die Britin Ernestine Amy Buller ihr Buch „Darkness over Germany“. Darin gab sie Gespräche wieder, die sie von 1934 bis 1938 auf Reisen durch Deutschland und Österreich geführt hatte. Sie wollte verstehen, was dort vor sich ging. Jetzt wurden ihre Aufzeichnungen wiederentdeckt und übersetzt.

Musste es kommen, wie es gekommen ist? Eine Frage, die in Bezug auf das Dritte Reich sowohl die Geschichts- als auch die Politikwissenschaft seit Jahrzehnten beschäftigt. Diverse Annäherungen an Antworten füllen inzwischen Bibliotheken. Wie konnte ein derart mächtiger Unterdrückungsapparat in relativ kurzer Zeit geschaffen und vor allem aufrechterhalten werden?

Die Engländerin Ernestine Amy Buller (1891–1974) wollte verstehen, wie aus dem „Volk der Dichter und Denker“ verrohte „Herrenmenschen“ werden konnten, und wieso sie die Unfreiheit anfangs als Befreiung erlebten. Buller wuchs in Südafrika auf, studierte in London Geschichte und entwickelte dabei ein lebhaftes Interesse an Deutschland. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war sie das erste Mal nach Deutschland gereist. Sie stammte aus einer Baptistenfamilie, konvertierte aber während ihrer Studienzeit zum Katholizismus und trat dem christlichen Studentenbund bei. Nach dem Krieg bildete sich dort ein Forum, in dem über die Folgen des Krieges debattiert wurde. Buller war von großem Idealismus geprägt, wollte völkerverbindend wirken und knüpfte Kontakte zu akademischen und Kirchenkreisen auf dem europäischen Kontinent.

Als Anfang der 1930er-Jahre der Aufstieg der NSDAP einsetzte, fragte sie sich, warum in einem kultivierten Land wie Deutschland so viele Menschen der Nazi-Ideologie verfallen waren. Von 1934 bis 1938 reiste sie mehrmals durch Deutschland und Österreich, führte Gespräche mit Beamten, Hausfrauen, Offizieren, Priestern, Studenten und Großgrundbesitzern. 1943, mitten im Krieg, veröffentlichte sie darüber das Buch „Darkness over Germany“, das erklären wollte, was sich in den vergangenen zehn Jahren im Dritten Reich abgespielt hatte. Viel Resonanz fand das Buch damals nicht. Die Engländer waren damit beschäftigt, die Nazis niederzuringen, nicht, die Deutschen zu verstehen.

Nun liegt das Buch erstmals auf Deutsch vor. Trotz der unüberschaubaren Anzahl an deutschsprachigen Publikationen zum Thema NS-Zeit geben Bullers Gespräche mit Zeitzeugen, Nazis und Nazi-Gegnern, einen besonderen Einblick in die Mentalitätsgeschichte. Eines wird dabei schnell klar: Das Bedürfnis nach Veränderung aus einer tristen Gegenwart war insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 groß. Zugetraut wurde eine solche Veränderung nicht den gemäßigten, sondern nur den radikalen Kräften, also entweder dem „Bolschewismus“, wie der Kommunismus russischer Bauart damals genannt wurde, oder dem Nationalsozialismus. Die Angst vor dem Bolschewismus, also der Enteignung, war unter bürgerlichen Wählern groß. „Dass so viele Menschen Angst vor dem Kommunismus haben, hat es Hitler zweifellos einfacher gemacht, die Macht so restlos an sich zu reißen“, sagte ein deutscher Offizier und Nazi-Gegner 1936 zu Buller. Dass sie sich mit Hitler genau das einhandelten, was sie am Bolschewismus geängstigt hat, ist die Ironie oder besser der Zynismus der Geschichte: die Beschneidung jeglicher Freiheit. „Und mit ihren Volksgerichtshöfen haben die Nazis auch noch die Rechtsordnung ausgehebelt“, so der Oberst. Gleichzeitig sah er schon damals voraus, dass im Kriegsfall die Deutschen zusammenhalten würden „und jeder – sosehr er die Nazis auch hassen mag – wird alles geben, um eine weitere Niederlage wie die von 1918 zu verhindern“.

Der hellsichtige Oberst erkannte klar, dass es bei den Deutschen auch um eine Sehnsucht nach Erlösung (von dem Übel von Versailles) handelte, die viele auf Hitler projizierten. „Wenn sie einen Nationalsozialisten nach dem politischen und wirtschaftlichen Programm seiner Partei fragen, werden Sie nur eine sehr dürftige Antwort erhalten, denn diese Leute vertrauen voll und ganz auf Hitler, der für sie so etwas wie ein Wundertäter ist.“ Das Gefährliche an Hitler, so ein Niederländer, der früh Ansprachen Hitlers vor Jugendlichen gehört hatte und mit dem sich Buller in Wien traf, waren nicht seine „geschmacklosen und sadistischen Reden“, sondern, dass „manches, was Hitler sagt, stimmt, aber die Umsetzung vollkommen verkehrt ist“.

Es war die Mischung aus Halbwahrheiten, Lügen und Wahrheiten, die zu seinem Erfolg beitrugen, notierte Buller die Worte eines deutschen Professors, der die Entwicklung bis zur Machtergreifung folgendermaßen charakterisierte: Zuerst „die Lebenssehnsucht einer jungen Generation, die die alten Lebensstandards verloren hatte“. Die Wirtschaftskrise machte dann – vor allem für die Jugend – jegliche positive Zukunftsaussichten zunichte. „So geschah es, dass aus einer zutiefst beunruhigenden Realität Primitivität und eine geistige Verarmung erwuchsen, die jedoch gleichzeitig wieder Hoffnung auf die Zukunft machten.“ Was aus der Krise führen könne, so suggerierten die Nazis, sei die Idee des Volkes als homogene Gemeinschaft. „Damit war endlich ein geeignetes Objekt gefunden, in das sich die Opfer- und Leistungsbereitschaft kanalisieren ließen“, analysierte der Professor.

Hinzu kommt, dass niemand es damals für möglich hielt, wie rasch die Nazis alles unter ihre Kontrolle brachten. 1940 fragten englische Studentinnen Buller, ob es keine Möglichkeiten gegeben habe, Hitler aufzuhalten. Ihre Antwort: „Ich glaube, der Großteil der Deutschen begriff die Tragweite der Geschehnisse erst, als kein Widerstand mehr möglich war.“ Die meisten Deutschen, so Bullers Eindruck, erkannten erst, welche Gefahr ihnen drohte, als Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Rede bereits abgeschafft waren.

Nach dem Krieg gründete Ernestine Amy Buller 1949 die Cumberland Lodge in Windsor, die zu einem Begegnungsort für Studenten aus allen Ländern werden sollte; sie starb 1974. Ihr Buch ist keine historische Analyse über den Aufstieg des Nationalsozialismus, sondern der Versuch zu verstehen, was in den Deutschen vor sich ging, was sie motivierte, sich der „Bewegung“ anzuschließen oder sie zumindest zu akzeptieren. Ihr Resümee: „Hitler kam an die Macht, indem er sich nicht nur mit den Bösen identifizierte, sondern auch mit den legitimen Bedürfnissen und Sehnsüchten ganz normaler Bürger – vor allem jener junger Deutscher.“ ■

Ernestine Amy Buller

Finsternis in Deutschland

Was die Deutschen dachten. Interviews einer Engländerin 1934–1938. Aus dem Englischen von Michael Pfingstl. 352 S., geb., 25 SW-Abb., € 25,70 (Elisabeth Sandmann Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2016)

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