Bob und der Pop

Er hat einflussreich wie kaum ein anderer ein halbes Jahrhundert die Geschichte der Popmusik geprägt: der in Duluth, Minnesota, geborene Robert Zimmerman, der als Bob Dylan am 24. Mai seinen 75. Geburtstag feiert.

Robert Allen Zimmerman war einer von Hunderttausenden Jugendlichen in den USA, die in den 1950er-Jahren James Dean sahen und Elvis Presley hörten. Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in der Provinz ohne größere wirtschaftliche Sorgen – auch wenn in der Umgebung Betriebe schließen mussten –, bleibt er lang unauffällig: Nach der High School wechselt er 1959 auf die University of Minnesota. Und taucht 1961 in New York auf – als Folksänger, der sich Bob Dylan nennt.

Dies und den weiteren Verlauf seines Lebens schildert Tino Markworth in der als Einstieg immer noch soliden Rowohlt-Monografie, die durchaus ohne Untertitel auskommen konnte. Das sollte sich ändern: Dylans überschäumende Textproduktion, sein konsequentes Irrlichtern durch musikalische Stile und Sounds, seine religiösen Sidesteps zum evangelikalen Christentum und Judentum und zurück führten zu Unmengen wissenschaftlicher Spezialuntersuchungen, von den Wortmeldungen selbst ernannter Dylanologen ganz zu schweigen. Kein Wunder, wenn der einstige Folknik und Protestsänger, der mit Gitarre und Mundharmonika in den frühen 1960ern als laute Stimme der US-Bürgerrechtsbewegung gesehen wurde, später mit Rockband auftrat – was ihm bei einem Auftritt den wütenden Zuruf „Judas!“ einbrachte – und heute Lieder von Frank Sinatra singt, als hätte er keine eigenen.

Begonnen hat das alles mit dem hymnischen Bericht des Journalisten Robert Shelton in der „New York Times“ über den noch kaum bekannten Folksänger am 29. September 1961. Für diesen Tag hat der Plattenproduzent John Hammond zufällig Dylan als Studiomusiker verpflichtet – und den Artikel gelesen. Das Ergebnis: ein Plattenvertrag. Mit dem seit Jänner regierenden Präsidenten John F. Kennedy haben sich bei den diskriminierten Farbigen und begeisterten Jugendlichen große Hoffnungen auf soziale Veränderungen verbunden.

Die Zeiten, sie ändern sich

Dylan wurde die „Stimme der Protestgeneration“ im noch immer währenden Kalten Krieg – mit Liedern gegen Rassentrennung, Militarismus, Atomrüstung, rigide Sexualmoral und repressive Gesellschaftsstrukturen. Später distanzierte er sich von dieser Rolle, was bei vielen seiner Fans für Unverständnis sorgte. Dylan – ein Chamäleon?

Sean Wilentz, heute Historiker an der Princeton-Universität, hatte das Glück, als Kind in einer zukunftsträchtigen Gegend in New York aufzuwachsen. Der Vater hatte eine Buchhandlung und kümmerte sich in den 1950er-Jahren um die Dichter der Beat-Bewegung und Anfang der 1960er um die Vertreter des Folk-Revival. In der Wohnung eines Onkels fand das erste Treffen Dylans mit dem Beat-Poeten Allen Ginsberg statt. Willentz' Buch „Bob Dylan und Amerika“ präsentiert eindrucksvoll die historischen, musikalischen und literarischen Quellen vonDylans Werk durch die Zeiten und findet erstaunliche Spuren.

Spätestens beim Album „Love And Theft“, das just (Verschwörungstheoretiker aufgepasst!) am 11. September2001 erschien, hatte sich der schon lang wehende Wind des Plagiatsvorwurfs an Dylan zu einem Orkan entwickelt. Wilentz dazu: Schon in den 1930-Jahren hatten linke E-Komponisten das Projekt „Musik für den kleinen Mann“ verfolgt, in der Volksfront-Ära wurde linker kultureller Populismus gepredigt. Aaron Copeland etwa baute in sein Ballett „Billy the Kid“ Cowboy-Musik ein. Gleichzeitig zogen Aktivisten wie Woody Guthrie und Mitglieder der Seeger-Familie durch das Land und dokumentierten Volkslieder, die auch in diversen Versionen auftauchten. Ein Originalschöpfer war da oft nicht zu finden. So kam es zu „schöpferischen Übernahmen“.

Wie bei Dylan, der von seiner Freundin Suze Rotolo 1961 in ein Theater mit dem Programm „Brecht on Brecht“ (übersetzt von George Tabori, unter anderem mit Lotte Lenya) geschleppt wurde, dort vom Song „Seeräuber-Jenny“ begeistert war und bald darauf das Lied „When the Ship Comes in“ schrieb. Von den Beat-Poeten lernte er die Kunst der Performance: „Meine Songs waren weniger von Lyrik beeinflusst als von Dichtern vorgetragener Lyrik, die Gedichte zu Jazzbands vortrugen.“ Selbst wenn das damals stimmte, es sollte sich bald ändern. Die halbe Weltliteratur hinterließ bei Dylan Spuren: Rimbaud, Verlaine, Villon, Melville, Whitman, Eliot, Homer, die Bibel et cetera. Bob Dylans Meistersong „Desolation Row“ ist so „eine Art Jahrmarkt von Fragmenten, Splittern einer in die Brüche gegangenen Zivilisation in der modernistischen Version von Eliots ,Waste Land‘ bis hin zu Ginsbergs ,Howl‘“.

Beeindruckend beschreibt Wilentz, wie Dylan 1975 seine „Rolling Thunder“-Tournee nach „Kinder des Olymp“, dem legendären Film von Marcel Carné aus dem Jahr 1945, inszeniert. Wie schon im Frühwerk apokalyptische Themen zu finden sind. Wie die Lieder erst den revolutionären Augenblick des Umsturzes zur Lösung sozialer Probleme schildern, um später der Preisung der persönlichen Erlösung zu weichen. Wie Glaube an, Liebe zu und Hoffnung auf Veränderbarkeit der Gesellschaft zugunsten eines Kreislauf-Denkens des Geschehens aufgegeben wurden. Wie Dylan später die alte Tradition der Wandermusiker, Songster und Minstrel Shows aufgriff. Und einige Zeit mehrpredigte als sang. Ein epochales Buch, dem auch spätere Werke verpflichtet sind.

So auch der Band „Die Stimmen aus der Unterwelt – Bob Dylans Mysterienspiele“ des Göttinger Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering, der sich besonders mit Dylans Album „Love And Theft“ beschäftigt. Er findet darin eine „fintenreiche Neukombination, De- und Rekontextualisierung“ von Hochkultur und Volkskunst. Selbst der Titel dieses Albums – er steht unter Anführungszeichen – ist identisch mit dem einer klugen Abhandlung Eric Lotts über die US-Tradition der Minstrel Shows.

Dabei handelte es sich um im 19. Jahrhundert über die Lande ziehende Unterhaltungskünstler, die dem oft ländlichen Publikum ein „hochkulturelles“ Theaterstück und gleich darauf dessen Travestie darboten, eine Vermischung von Jahrmarkt, Theater und Musik. Quasi Shakespeare und Nestroy nebeneinander. Eine Sonderform dabei war die etwas rassistisch angehauchte „Blackface Show, in der sich weiße Schauspieler schwarzschminkten und sich über Verhalten und Gebräuche der Farbigen vor meist weißem Publikum lustig machten“.

Komplexe Collagen zu basteln sei schwieriger als das Schreiben einfacher neuer Lieder, urteilt Detering und exemplifiziert seine These an vielen Liedern des „Diebstahl aus Liebe“-Projekts. Besonders überzeugend gelingt dies dem Autor bei Dylans auf den ersten Blick recht simpel daherkommenden Song „Roll on John“ aus dem Album „Tempest“, in dem Dylan nach vielen Jahren den 1980 ermordeten Freund, Kollegen und Konkurrenten John Lennon anstrudelt.

Schon in der ersten Strophe wird ein Doktor nach dem Ende gefragt und die Ermordung keinem Einzeltäter zugeschoben, sondern einer jagenden Meute, ehe ein Gospelrefrain ertönt. Verteilte Textsplitter aus Beatles-Song weisen später auf John Lennon hin, bald tauchen Assoziationen zur langen Heimreise eines alten Bekannten auf: „Von der ersten bis zur letzten Strophe überblendet Dylan das Leben und Sterben John Lennons mit der Odyssee.“ Die Heimkehrer Odysseus und Menelaos erscheinen als glücklicher Widerpart zum unglücklichen Lennon, der auch noch mit Partikeln eines christlichen Märtyrers versehen wird und dessen Licht weiter leuchten soll.

Von der Lösung zur Erlösung

Das Verhältnis der beiden großen Songwriter zueinander ist seltsam. Begann Lennon als Beatle mit genreüblichen Love-Schalala-Texten und Yeah-Yeah-Yeah-Chören, während Dylan mit metapherngespickter Textpranke kritisch-politische Lieder verfasste, sollte sich das umkehren: Je politischer Lennon sich mit Songs in die Politik einmischte, umso religiöser, zwischen banal und opak schwankend wurde Dylan. Fast erschlägt den Leser das „Fremdmaterial“, das Detering in Dylans Werk aufspürt, doch immer wieder gibt es Anlass zu freudiger Überraschung.

Klar, dass so ein Megastar sich auch im Titel eines Romans gut macht. So hat der 1966 in Telgte geborene Autor Markus Berges, auch Sänger und Songschreiber der Band Erdmöbel, den Roman „Die Köchin von Bob Dylan“ verfasst. Keine Angst: Es handelt sich nicht um eine Sammlung von Kochrezepten – das besorgen schon diverse Krimis. Erzählt wird die Geschichte einer schwarzmeerdeutschen Familie im 20. Jahrhundert, die von den welthistorischen Ereignissen durchgebeutelt wird. Zentrale Figur ist die etwa 35 Jahre alte Deutsche Jasmin Nickering, die auf Vermittlung ihrer in den USA lebenden Freundin das Angebot erhält, an ihrer statt als Köchin bei einer Tour Bob Dylans in die Ukraine, aus der dessen Vorfahren stammen, zu arbeiten. Da auch ihre Familie aus diesem Gebiet kommt, meldet sich Jasmin für den Job und erhält ihn.

Davon ist aber im anfänglichen Prolog noch nicht die Rede. Da stapft eine hungrige ältere Frau durch Schnee und Eiseskälte zu dem Haus der Familie ihrer Tochter und erzählt dort dem kleinen Enkel Florentinius eine Gruselgeschichte über gefährliche Wölfe im Winter. Dieser Florentinius wird dann noch oft auftauchen und sich als naher Verwandter Jasmins herausstellen. Seine Geschichte steht hier für das Schicksal der Russlanddeutschen – Sowjetkommunismus, Weltkrieg, Zwangseingliederung in die NS-Militärmaschine, knappes Überleben im Krieg, Untertauchen im Stalin-Staat.

Und Jasmin? Sie wird bald vom Begleittross des Sängers akzeptiert, der sich als freundlicher Arbeitgeber mit Vorliebe von Anton Tschechow entpuppt und mit ihren Kochkünsten zufrieden ist. Doch mehr als mit dem Popstar ist Jasmin mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Hatte sie zuvor noch ihre alte Großmutter in einem Altersheim besucht, erhält sie in der Ukraine den Anruf eines Wladimir, der sie mit den Worten „Wir teilen uns einen Großvater“ um ein Treffen bittet. Boss Bob genehmigt Jasmin einen kurzen Urlaub, um dieser Information nachzugehen. Jasmin trifft bei den neuen Verwandten ihren seit 1944 verschwundenen, nun dementen Großvater Florentinius, dessen verschlungene Lebensgeschichte in vielen Passagen in den Jasmin-Hauptstrang des Romans eingebaut ist.

Viel Neues und Unerwartetes ist da auf Jasmin seit ihrer Reise eingestürzt. Der früher lebensfrohen, leicht oberflächlichen Frau kommt es vor, als habe der Furor der Weltgeschichte sie kraftvoll in den Rücken getreten. Und als sie zum Schluss im von einem Oligarchen gesponserten Konzert BobDylan „Like a Rolling Stone“ singen hört, fühlt sie sich gemeint.

Autor Berges konzentriert sich in dem Roman mehr auf die Schilderung des barock anmutenden Hofstaats des Sängers als auf diesen selbst. Insofern hätte auch eine Ukraine-Tournee von Gary Glitter oder DJÖtzi den Zweck der Familienarchäologie erfüllt – aber wen berühren schon deren Lieder? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2016)

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