Die Geopolitik der Angst

Tim Marshall analysiert, wie die Geografie den Lauf der Geschichte mitbestimmt.

Herrscher kommen und gehen, Regierungsformen wechseln, Länder verändern ihre Grenzen – aber Berge, Täler, Wüsten, Flüsse bleiben. Geschichte ist ein Prozess, die Geografie bleibt. „Es sind geografische Faktoren, die unsere Geschichte mitbestimmt haben und die die Zukunft mitbestimmen werden“, schreibt der britische Außenpolitik-Experte Tim Marschall, dessen Buch über „Die Macht der Geografie“ seit Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht. Nicht, dass die Geografie den Verlauf der Geschichte quasi im Alleingang diktieren würde, große Visionen und fähige politische Führer sind mindestens so wichtig. Aber die Geografie gibt der Politik den Rahmen vor.

Für russische Führer wird die nordeuropäische Tiefebene immer eine offene Flanke darstellen, über die schon mehrere Heere aus dem Westen eingedrungen sind und in Zukunft eindringen könnten. Diese Gefahr prägt das russische Sicherheitsdenken genauso wie die Tatsache, dass dem Land eisfreie Häfen und ein direkter Zugang zu den Weltmeeren fehlen.

Als der Kreml im Frühjahr 2014 mit der Annexion der Krim gezeigt hat, dass die russische Führung zur Wahrung ihrer Interessen im „nahen Ausland“ auch bereit ist, militärisch zu intervenieren, hat man Präsident Wladimir Putin vorgeworfen, eine Machtpolitik des 19. Jahrhunderts zu betreiben. Aber für Marschall ist es nur typisch, dass Russland wie alle Großmächte in langen Zeiträumen denkt und handelt. Ob man es gutheißt oder verurteilt – für Moskau gibt es Geopolitik auch im 21. Jahrhundert, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht sind da zweitrangig. Weniger erfreulich für Moskau ist wohl Marschalls Prognose, dass „China auf lange Sicht die Kontrolle über Teile Sibiriens erlangt, allerdings aufgrund sinkender russischer Geburtenraten und chinesischer Emigration in Richtung Norden“.

Keine Demokratisierung Chinas

Marschall hält es für „naiven Unsinn“, wenn westliche Beobachter im rasanten gesellschaftlichen Wandel in China oder auch im Arabischen Frühling das Erwachen der liberalen Demokratie erblicken. „Das zeigt nur ihr mangelndes Verständnis hinsichtlich der internen Dynamiken von Völkern, Politik und Geografie.“ So stünde einer Unabhängigkeit Tibets, die die Freunde des Dalai-Lama in aller Welt herbeisehnen, die Demografie ebenso wie die „Geopolitik der Angst“ entgegen: „Wenn China nicht die Kontrolle über Tibet hätte, bestünde immer die Möglichkeit, dass Indien versuchen würde, diese zu erlangen.“ Damit hätten die Inder ein Einfallstor ins chinesische Kernland und die Kontrolle über die Quellen dreier großer chinesischer Flüsse. Genauso unentbehrlich ist für China die Kontrolle über Xinjiang im Westen.

In zehn Kapiteln und anhand von zehn Karten stellt Marshall geopolitische Faktenlagen dar, von Westeuropa bis Ostasien, von Afrika bis Lateinamerika, von der Arktis bis zum Nahen Osten. Er scheut sich auch nicht, Prognosen über Entwicklungen einzustreuen. Eine davon wird den unzähligen Amerika-Hassern in Europa und Russland gar nicht passen: „Seit 30 Jahren ist es Mode, den unmittelbar bevorstehenden oder bereits stattfindenden Niedergang der USA zu prophezeien. Dies trifft heute so wenig zu wie in der Vergangenheit.“ Als Zeuge für seinen Befund dient dem britischen Autor Otto von Bismarck: „Das Schicksal beschützt Kinder und Idioten, Betrunkene und die Vereinigten Staaten.“ ■

Tim Marshall

Die Macht der Geografie

Wie sich Weltpolitik anhand von
zehn Karten erklären lässt. Aus dem
Englischen von Birgit Brandau. 304 S., geb., € 23,60 (Deutscher Taschenbuch
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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