Jung-Wien, neu sortiert

An die 200 literarische Zeugnisse der Ringstraßenzeit hat Evelyne Polt-Heinzl einer systematischen Sichtung unterzogen. In ihrem „Porträt einer Epoche“ verweist sie nicht nur auf Verlorenes und Vergessenes, sondern auch auf die Fragwürdigkeit von Kanonisierungen. Eine Revision.

Mutig, gelegentlich auch übermütig stellt Evelyne Polt-Heinzl, beharrlich bemüht, der Kanondebatte neue Impulse zu geben, seit Jahren der österreichischen Literaturwissenschaft die Rute ins Fenster. In ihrer Abhandlung über die „Österreichische Literatur zwischen den Kriegen“ (2012) beschäftigt sie sich mit der Literatur der Ersten Republik (unter ästhetischen Gesichtspunkten vornehmlich: Literatur der Neuen Sachlichkeit) und räumt dabei vehement die erst in jüngster Zeit fest installierten und allgemein als brauchbar anerkannten „Lenksysteme wissenschaftlicher Aufmerksamkeitsökonomie“ zur Seite, die in Bezeichnungen wie Prager Kreis oder Wiener Gruppe zum Ausdruck kommen.

Über die längst anerkannten Autoren Kraus, Broch, Roth, Musil und Canetti hinaus werden in dieser Studie vor allem Zeitromane mehr oder weniger vergessener österreichischer Autorinnen und Autoren behandelt. Indem Polt-Heinzl rund 200 Werke unter thematischen Knoten wie „Sachwerte, Kursstürze, Projektionsfiguren“, „Der Erste Weltkrieg und die Töchter“ oder „Großstadtleben und Medienwelten“ diskutiert und damit eine so noch nie vorgenommene systematische Sichtung der literarischen Zeugnisse der Epoche vorlegt, verweist sie nicht nur auf Verlorenes und Vergessenes, sondern auch auf die Fragwürdigkeit von Kanonisierungsentscheidungen, die, irgendwann einmal, unter dem Vorzeichen der Klassik oder auch der Avantgarde getroffen und nie mehr nachgeprüft worden sind.

Klischees über Klischees häufen

Im Kontext der langen Reihe von Erzählungen und Romanen entpuppt sich jedoch auf der einen Seite so mancher renommierte Text als Nachfolger von Prätexten, die nur Klischees über Klischees (zum Beispiel über die erotischen Avancen von Zimmervermieterinnen) häufen, während auf der anderen Seite Schriftsteller wie Raoul Auernheimer, Hugo Bettauer, Rudolf Brunngraber, Felix Dörmann, Georg Fröschel, Robert Neumann und Otto Soyka, vor allem aber Vicki Baum oder Fritz Hochwälder oder auch ein Roman wie „Die Kegelschnitte Gottes“ (1921, 2. Aufl. 1926, 3. Aufl. 1932) von Sir Galahad (das ist Bertha Eckstein-Diener) in völlig neuem, hellem Licht erscheinen.

Was Polt-Heinzl aufheben will, ist die vielfach festgeschriebene Trennlinie zwischen den Autorinnen und Autoren, die einerseits der Ringstraßenzeit und andererseits der Wiener Moderne zugerechnet werden. Ein Beispiel: „Marie Eugenie Delle Grazie wurde fünf Jahre nach Peter Altenberg, zwei Jahre nach Schnitzler und zehn Jahre vor Karl Kraus geboren – in der Auseinandersetzung mit der Wiener Moderne stößt man kaum je auf ihren Namen, obwohl sie immerhin das einzige naturalistische Drama der österreichischen Literatur schrieb.“

Letzteres stimmt nicht ganz; das naturalistische Drama wird in Österreich von Franz Kranewitter und Karl Schönherr eingebürgertund weiterentwickelt. Aber die Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Generationen, zwischen Marie von Ebner-Eschenbach oder Ferdinand von Saar auf der einen Seite und Schnitzler oder Hofmannsthal auf der anderen, waren doch vielfältig. Sie publizierten in denselben Zeitungen und Zeitschriften und verhandelten in ihren Werken nicht selten ähnliche Problemfelder: wie die Rolle der Institutionen und die Krise des Individuums im Strom der Modernisierungsprozesse, das Festhalten an der gesellschaftlich sanktionierten Doppelmoral oder die allmähliche Auflösung der überkommenen Geschlechterverhältnisse.

Auch für ihre jüngste Studie hat Polt-Heinzl eine beeindruckende Fülle von Materialien durchgesehen und aufgearbeitet, um ein in manchen Zügen neues Bild der Epoche zu skizzieren. Materialien aus Zeitungen und Zeitschriften, aus (auto-)biografischen Zeugnissen, aus literarischen Texten, allen diesen Materialien entnimmt sie Stoffkomplexe und Themenfelder, um deren Bearbeitung sich nicht erst die (jungen) Autoren gekümmert haben, die im Café Griensteidl zusammengekommen sind. Vor allem Autorinnen kommen hier ausführlicher als in anderen Darstellungen zu Wort: Marie von Ebner-Eschenbach erwartungsgemäß zuvorderst, aber auch Bertha von Suttner, Helene von Druskowitz, Rosa Mayreder, Elise Richter und Eugenie Schwarzwald. Wieder ergeben sich thematische Knoten, diesmal rund um Stichwörter wie Adelsschelte, Fortschritt, Technikdiskurse, Ehebruch, Familienpolitik, Frauenarbeit, Erziehung (und andere mehr). Die literarischen Werke bleiben indessen Steinbrüche, die Bausteine zur (Re-)Konstruktion des gesellschaftlichen Lebens der Epoche zur Verfügung stellen: So wird vieles anschaulich, etwa der Literaturbetrieb, die soziale Rolle der Frau im Alltag, der verbreitete Umgang mit dunklen Familiengeheimnissen, aber um einen hohen Preis: Die ästhetische Dimension der Texte rückt nämlich ganz in den Hintergrund.

Julius Rodenberg, der Herausgeber der „Deutschen Rundschau“, der führenden deutschsprachigen Kulturzeitschrift im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, hat angeblich nur Texte in sein Blatt aufgenommen, dieer bedenkenlos auch seiner Tochter zu lesen geben konnte. Anders als die Schriftsteller Jung-Wiens stießen die Autorinnen und Autoren der Ringstraßenzeit in ihren gewohnten Publikationsorten noch wiederholt auf Widerstand, sobald sie sich mit heißen Eisen befassten, mit Themen, die seinerzeit zwar schon Grillparzer beherzt aufgegriffen hatte, die jedoch weiterhin tabuisiert waren: wie ungebührliche erotische Avancen, von der leidenschaftlichen Parteinahme für die Frau nicht zu reden (man denke an „Sappho“, „Medea“, „Die Jüdin von Toledo“).

Unter diesem Vorzeichen, dass solches Engagement noch immer alles andere als opportun war, liest Polt-Heinzl zum Beispiel Ebner-Eschenbach strikt im Kontext der sozialmoralischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit und damit in gewisser Weise nachsichtig. Für das schonungsvolle Verhalten, das die Kritik später lange Zeit Peter Altenberg gegenüber geübt hat, trotz seiner Kriegsbegeisterung von 1914 und seiner Neigung zur Pädophilie, hat sie hingegen – zu Recht – kein Verständnis. Gleichwohl, die gesellschaftlichen Einfassleisten sind das eine, die ästhetischen Kennzeichen das andere: Die zentralen Kriterien, die erst für die literarische Moderne charakteristisch sind, die innovativen, oszillierenden Schreibweisen, die sich von den im 19. Jahrhundert noch dominanten realistischen-idealistischen Strategien deutlich absetzen, dürften nach wie vor die Trennlinie zwischen Ringstraßenzeit und Wiener Moderne (allen thematischen Überlagerungen zum Trotz) scharf markieren.

Die wissenschaftliche Literatur über Jung-Wien, die Polt-Heinzl nur vereinzelt und eher beiläufig zitiert, bleibt demnach auch künftig ganz und gar unersetzlich, und erst recht das Standardwerk zur Kultur der Ringstraßenzeit (das nie, auch in ihren Anmerkungen nicht, erwähnt wird), das Handbuch „Literatur und Liberalismus“ (1992) von Karlheinz Rossbacher. Aber die Kanondebatte erhält dank Evelyne Polt-Heinzl bestimmt wieder Auftrieb. ■

Evelyne Polt-Heinzl

Ringstraßenzeit und Wiener Moderne

Porträt einer literarischen Epoche des Übergangs. 202 S., brosch., € 19,90 Sonderzahl Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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