Wo bleibt der Gegensatz?

Mit Überschwang: unbekannte Briefe Gustav Mahlers an Musen und Musiker.

Anläufe hat es etliche gegeben. Trotzdem wäre verfehlt zu glauben, dass alle Briefe Mahlers ediert sind. Ob dies je der Fall sein wird? Zu sehr sind sie in aller Welt verstreut. Viele finden sich in Stiftungen, manche sind verloren gegangen, einige vernichtet worden. Umso verdienstvoller, wenn man sich immer wieder auf die Suche macht, auch wenn mittlerweile gut kommentierte, aber eben nicht vollständige Briefeditionen vorliegen.

Zweimal hat Franz Willnauer, jahrelang in führenden musikalischen Positionen tätig, Mahler-Briefbände herausgebracht: 2010 „Verehrter Herr College!“ und 2012 „Briefe an seine Verleger“. Jetzt legt er weitere 250 Mahler-Briefdokumente vor, darunter einige Telegramme. „In Eile – wie immer!“ heißt der Band, weil sich dieser Zusatz zahlreich in Mahlers Briefen findet. Zu relativieren, daran lässt der Herausgeber im Vorwort keinen Zweifel, ist der Untertitel dieser Sammlung: „Neue unbekannte Briefe“. Denn ein Gutteil der abgedruckten Briefe ist, wenn oft auch nur in schwer erreichbarer Fachliteratur, zumindest einem kleineren Kreis schon bekannt. Wie Mahlers Briefe an eine seiner Musen, den Sängerstar Selma Kurz, die deren Tochter Dési Halban vor Jahren veröffentlicht hat.

Dennoch lässt sich dieser Untertitel rechtfertigen. Es finden sich auch erstmals publizierte Briefe Mahlers an den mit ihm zuerst freundschaftlich verbundenen, später abgelehnten Dirigenten Felix Weingartner, der als Mahlers Nachfolger als Wiener Staatsoperndirektor so gut wie alle von dessen Reformen rückgängig gemacht hat. Aufschlussreich ebenso Mahlers Briefwechsel mit dem Dresdner Langzeit-Generalmusikdirektor Ernst von Schuch, den er gern als seinen Nachfolger an der Wiener Staatsoper gesehen hätte und der früh Mahlers Zweite dirigiert hat.

An Alma scheiden sich die Geister

Ebenso interessant zu lesen, wie sehr sich die Beziehung Mahlers zu seinen Briefpartnern nach seiner Heirat mit Alma verändert hat. So hatte er etwa mit seiner einstigen Vertrauten Nina Spiegler kaum mehr Kontakt. Alma wiederum konnte ihren Gatten nicht von ihrer Begeisterung für Richard Dehmel überzeugen, wie man seiner Korrespondenz mit ihm unschwer entnehmen kann.

War Mahler in seine frühe Klavierschülerin Hermine Weiss verliebt? Wie ernst nahm er die Liaison mit seiner Prager Freundin Betty Frank, der er später reserviert begegnete? Welche Rolle spielte Misa Gräfin Wydenbruck-Esterházy, über die die Mahler-Forschung immer noch etwas im Dunkeln tappt und die eine Zeit lang in Mahlers Nachbarschaft wohnte? Stand sie Mahler so nah, wie sie es behauptete? Oder war die Beziehung weniger intim, wie man aus den erhaltenen 27 Briefen schließen könnte?

Wie brillant Mahler Kritik und Ablehnung zu formulieren wusste, zeigt ein Brief an den damals viel gelesenen Dichter Julius Wolff deutlich. Er bat Mahler, sich eines seiner romantisch überschwänglichen Libretti auf ihre Bühnenwirksamkeit durchzusehen. „So ist denn die Idee nicht ausgestaltet, und den Gegensatz, der die Seele des Stückes bilden soll, erleben wir nicht mit“, so sein Urteil.

Briefe, das lehrt dieser Band, in dem Mahler aus der Perspektive seines „jugendlichen Überschwangs“ bis zu seinem „Weg zum Gipfel“ (erster und letzter Titel der Kapitel) gezeichnet wird, sind immer noch die beste Möglichkeit, die Persönlichkeit eines Menschen und Künstlers kennenzulernen. Vor allem, wenn sie mit solch Kennerblick präsentiert werden. ■

Gustav Mahler

„In Eile – wie immer!“

Neue unbekannte Briefe. Hrsg. von Franz Willnauer. 480 S., geb., € 28,70 (Zsolnay Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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