Darf man Tiere essen?

Im Paradies frisst nicht einmal der Löwe Fleisch, argumentiert Kurt Remele und macht die karnivorische Komfortzone ein Stück weit ungemütlicher. „Die Würde des Tieres ist unantastbar“ oder: Unbequeme Vorschläge für eine neue Tierethik.

Bücher, die Kritik am gängigenFleischkonsum üben, liest man als Nichtvegetarierin mit einem gewissen Unbehagen. Denn es ist klar, dass, auf längere Sicht gesehen, dieArgumente fürs Karnivorentum immer dünner werden. Neuere naturwissenschaftliche Einsichten in Empfindungsfähigkeit und kognitive Leistungen von Tieren machen die klare Gattungsgrenze zwischen Mensch und Tier fragwürdig. Zudem geht der moderne ethische Imperativ auf Inklusion und Mitgefühl, sodass zunehmend weniger zu rechtfertigen ist, warum Tiere der Menschen wegen leiden und sterben sollten.

Kurt Remeles Buch unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen tierethischen Abhandlungen, auf die es auch ausführlich rekurriert: Es regt zum Nachdenken an und macht die karnivorische Komfortzone ein Stück weit ungemütlicher. Hinzu kommt, dass der Autor sich am Christentum abarbeitet, jener festen Bastion also, von der aus sich unter Berufung auf den biblischen Herrschaftsauftrag und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen die Unterwerfung undUngleichbehandlung der Tiere jahrhundertelang gut legitimieren ließ.

Den Gattungsunterschied Mensch/Tier stellt Remele nicht infrage, wohl aber die traditionelle Auslegung der bekannten Bibelstelle, Genesis 1,26: „Lasst uns Menschen machen, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel.“ Dies sei kontextabhängig zu lesen, im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Bibel, genauso wie das Versprechen Gottes an Noah (Genesis 9,3), dass alles Lebendige dem Menschen zur Nahrung diene. Nach Remele muss dieses „situationsbedingte Zugeständnis an schwache, gebrechliche Menschen in der Zeit nach der großen Flut, in der es offenbar wenig essbare Pflanzen gab“, heute anders ausgelegt werden.

Die Herrschaft der Menschen über die Tiere und Natur sei so weit fortgeschritten, die Ernährungssituation so wesentlich verbessert, dass der göttliche Auftrag an den Menschen heute in der verantwortungsvollen und schützenden Sorge für die Schöpfung liege. In der jüngst von Papst Franziskus veröffentlichten Enzyklika „Laudato si“ sieht Remele sich bestätigt – wenngleich er noch weiter gehen würde als der Papst, der einen Gebrauch von Tieren nicht verdammt. Eine zeitgemäße theologische Schöpfungslehre sollte den Willen Gottes nicht mehr anthropozentrisch verstehen, sondern generell auf „das Wohl aller Wesen“ gerichtet, meint Remele, was dem Menschen die Pflicht gebe, Tiere – außer in Notfällen – weder zu schädigen noch zu töten. Kulinarische Vorlieben und „Geschmackskonservativismus“, eben das Fleischessen, sind demnach kein legitimer Grund, Tiere zu „gebrauchen“.

Der Autor weiß, dass das katholisch geprägte Christentum nicht zur Avantgarde der Tierrechtsbewegung zu rechnen ist. Im Gegenteil spiele hier das geopferte und verzehrte Fleisch symbolisch wie real eine zentrale Rolle, während dem Vegetarismus historisch der Ruch des sektenhaft Ketzerischen anhaftete. Remele erwähnt, dass im vierten Jahrhundert Mönche in Ägypten verpflichtet wurden, sonntags Fleisch zu essen, um die heimlichen Manichäer unter ihnen zu entlarven. Er liefert einen Überblick über jene fest in christlicher Kultur verankerten Bräuche, die auf die eine oder andere Weise den Tod von Tieren nach sich ziehen. Das reicht von einer fraglichen Opferlamm-Ikonografie über inquisitorische Katzenverfolgung im Mittelalter bis zu gegenwärtigen Hubertusmessen, Fleischweihen oder mariologisch überhöhten Stierkampf-Ritualen. Dass Stierkampf nur in katholischen Ländern beheimatet sei, lege einen Zusammenhang zwischen Konfessionszugehörigkeit und „rituellen blutigen Misshandlungen von Tieren“ nahe.

Es mutet verwegen an, gerade dieser Tradition und ihrer „Tiervergessenheit“ einen vegetarischen Geist einhauchen zu wollen. Genau das aber hat Remele vor und geht von einem vegetarisch-veganen oder, wie er es auch nennt, „vegantarischen“ Imperativ aus. Erreichen will er dessen Umsetzung im „Modus einer Zielethik“, die in kleinen Schritten vorgeht und sich langsam, aber sicher auf das Pflichtideal eines kompletten Fleischverzichts hinentwickelt. Remele ist in der Sache konsequent, hinsichtlich der praktischen Umsetzung aber pragmatisch und kein Eiferer. Sein Buch ist solide geschrieben und verbindet viele Impulse aus den säkular und religiös geprägten Tierethik-Debatten. So wieder Titel selbst, liefert es im Grunde jedoch wenig Überraschendes außer einigen unkonventionellen Wendungen im Umgang mitder Tradition oder mit Bibelstellen.

Wie oft bei Normbegründungen, ruhen die sachlichen Argumente auf einer vorgängigen Entscheidung. Denn die Überzeugung, dass Gott das Wohl aller Wesen wolle, bleibt letztlich genauso Glaubenssache wie die alte Überzeugung, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, aber Ersteres hat heute eine wesentlich höhere Plausibilität. Remele betont, dass die christliche Ethik sich nicht durchgängig negativ zu Tieren verhielt, sondern widersprüchlich. Es gibt auch positive Bezüge: So lässt sich nicht nur die Erlaubnis zum Fleischverzehr, sondern auch der vegan-vegetarische Imperativ biblisch begründen. Der Speiseplan des Paradieses vor dem Sündenfall ist als rein pflanzlich beschrieben. Hier frisst nicht einmal der Löwe Fleisch.

Im Vegetarismus und Veganismus liege ein eschatologisches Moment, meint Remele, ein punktueller Vorgriff auf das Reich Gottes. So etwa liest Remele den Satz „das Wort ist Fleisch geworden“ nicht klassisch als Mann- oder Menschwerdung Gottes in Christus, sondern allgemeiner so, dass der Gottessohn „Geschöpf“ geworden sei. Es gehedarum, „schon jetzt solche Lebensbedingungen zu schaffen, die den Idealen eines messianischen Schöpfungs- und Tierfriedenszumindest ein Stück weit entsprechen“. Dieses Argument möchte man, auch säkular gewendet, gern gelten lassen. ■

Kurt Remele

Die Würde des Tieres ist unantastbar

Eine neue christliche Tierethik. 232 S., geb., € 20,60 (Butzon & Bercker Verlag, Kevelaer)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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