Taugenichts, Tollpatsch, Tunichtgut

Vergaloppiert: Über tiefe Kalauerlacken führt Marjana Gaponenkos halsbrecherische narrative Kutschenfahrt. „Wir sehen uns am Meer“ – eine Groteske.

Man muss nicht Pferde mögen, um von Marjana Gaponenkos neuem Romanthema angezogen zu werden. Aber ein Faible für Wien sollte man schon haben. Denn die Stadt gibt mitsamt ihrer Schönheit und Schrulligkeit die passende Kulisse für all die Seltsamkeiten und grotesken Begebenheiten ab, von denen die Autorin erzählt.

Nirgends gibt es so viele Antihelden wie in der russischen Literatur; man denke nur an Oblomow oder an die Figuren in Tschechows Dramen. So hat auch die russisch denkende und auf Deutsch schreibende Ukrainerin Marjana Gaponenko einen Antihelden namens Kaspar erfunden, und seinen unversehens zu Reichtum gelangten Vater Adam gleich dazu.

Ein Oligarch aus dem Osten – was tut er mit seinem Geld? Er legt es im Westen an. Dieser Krösus namens Adam Niéc hat sich im Wiener Prater ein Gestüt gekauft, mit Pferden und Kutschen und allem, was dazugehört. Damit geht Marjana Gaponenkos halsbrecherische Romanfahrt über alle narrativen Hindernisse, über stilistische Stolperhürden und knietiefe Kalauerpfützen erst so richtig los.

Eindringlich lockt noch ihr Beginn: „Wenn es ein Wort gab, das mein Vater besonders häufig in den Mund nahm, so war es das Wort ,meisterlich‘. Als alter Pole sprach er es mit jiddischem Akzent aus, so dass sein ,majsterlich‘ gar nicht so unwienerisch klang.“ Sein Sohn Kaspar berichtet das, und der Taugenichts klagt: „Es ist eine Zumutung, in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen zu sein und bei jeder Gelegenheit dafür büßen zu müssen.“

So und ähnlich räsoniert dieser antriebslose Weichling immerfort, der vergeblich aus dem Schatten des übermächtigen Vaters zu treten versucht. Ausgerechnet diesen Tollpatsch und Tunichtgut hat die Autorin zum Ich-Erzähler erkoren, was leider nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ihm bei seinen männlichen Pennälerschwierigkeiten unüberhörbar von einer Frau souffliert wird.

Und diese Schwierigkeiten sind beträchtlich: Kaspar tut sich nicht nur mit seinem halbherzig begonnenen Informatikstudium schwer, sondern auch mit Frauen. Die erste verliert er prompt an einen Fahrlehrer. Die ansehnliche Betty, an die er daraufhin gerät, scheint eine Flugbegleiterin zu sein. Doch rasch erweist sie sich als nächtliche Herrenbegleiterin bis in die Horizontlage. Einem schrulligen Wiener Reitzubehörhändler, der sich als leibhaftiger Import aus Merry Old England erweist, ist sie denn auch alsbald zu Willen.

Auch eine ukrainische Krankenschwester gerät ins Visier von Kaspars Begehren. Indes, sie schnappt sich den finanziell potenteren Vater, den sie am Ende sogar beerbt. Eine „Girlande von Geheimnissen“, wie sich die 1981 in Odessa geborene und abwechselnd in Wien und Mainz lebende Autorin ausdrückt, macht es dem Leser nicht leicht, der reichlich abrupten Handlungsführung zu folgen. Zudem gelingt es Marjana Gaponenko bei allem Beschreibungsüberschwang nicht, die vielen Personen, denen sie auf ihrem skurrilen Romanparcours einen Auftritt gönnt, in ihrer Eigenart anschaulich zu machen: Alle reden, niemand hat ein Gesicht.

Mit dem Roman „Wer ist Martha?“, der köstlichen Geschichte über einen aus der Ukraine ins Wiener Hotel Imperial geflohenen greisen Ornithologen, hat die Autorin vor vier Jahren viel Aufmerksamkeit und 2013 den Adelbert-von-Chamisso-Preis für erfolgreich in der deutschen Sprache eingemeindete fremde Autoren errungen. Hier aber hat sich die Pferdekennerin mit ihrem Erzählsulky auf das Gelände der heimischen Groteske begeben und prompt einen Achsenbruch riskiert.

„Irgendwann lief meine Fantasie auf Grund“, bekennt denn auch der nach einem spektakulären Kutschunfall schwer behinderte Ich-Erzähler Kaspar gegen Ende der Roman(tor)tour einsichtig. Der Leser weiß das schon viel früher. Und seufzt ob so viel ungezügelten narrativen Ungemachs. ■

Marjana Gaponenko

Wir sehen uns am Meer

Roman. 266 S., geb., € 20,60 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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