Auf der Suche nach Nischen des Glücks

Eine Liebe zwischen New York und dem Donaudelta: Catalin Dorian Florescus überbordende Lust an Geschichten.

Der erste Blick fällt auf den East River, der gleichmütig darauf wartet, dass verzweifelte oder verrückte Menschen sich selbst oder auch andere ihm anvertrauen; als ob er ahnen könnte, dass an den Ufern von Manhattan Tag für Tag der Teufel los ist. Das letzte Bild des Romans verweist dagegen auf eine Leprakolonie im Donaudelta.

An diesen beiden Schauplätzen, die gegensätzlicher kaum sein könnten, begegnen einander ein Mann und eine Frau, Ray und Elena, die zunächst einmal kaum etwas verbindet, außer dass beide mutterseelenallein sind und offensichtlich keine Chance haben, einen Platz zu finden, an dem zu leben es sich lohnen würde. Aber sie kommen einander näher und schließlich zusammen, indem sie sich ihre Geschichten erzählen, Familiengeschichten vorzugsweise, die sehr weit zurückreichen: 100Jahre nichts als Kampf ums Überleben. 100Jahre auf der Suche nach Nischen des Glücks. 100 Jahre Einsamkeit.

Es ist nach wie vor verlockend, die abenteuerlichen, spannungsreichen, unglaublichen und doch fesselnden Geschichten Florescus einfach nachzuerzählen. Nachzuerzählen, was Ray über seinen Großvater erzählt, der vor lauter Angst zu erfrieren oder zu verhungern im Ghetto von Manhattan die denkbar grausamsten Geschäfte erledigt und nur den Elendsten unter den Prostituierten noch so etwas wie Glück bringt, und andererseits, was Elena berichtet, über ihre Großmutter und ihre Mutter, die immer schon, seltene Momente ausgenommen, von allen Menschen aus nachvollziehbaren Gründen gemieden worden sind. Schöne Geschichten!In die beiden Haupthandlungsstränge sind, als wären sie nicht ohnehin wild und bunt genug, unzählige weitere Geschichten, kleine Geschichten von kleinen Leuten, von Verlierern zumeist, eingebunden: Geschichten von Figuren, die im Leben der Vorfahren von Elena und Ray eine wichtige Rolle spielen. Geschichten, wie sie uns schon in früheren Romanen des Autors begegnet sind, Geschichten von Menschen, die dort, wo sie aufgewachsen sind, keine andere Möglichkeit mehr sehen, als endlich zu flüchten und vielleicht doch noch irgendwo auf der Welt einen Neuanfang zu wagen.

Nur, dieses Mal wird den beiden Protagonisten zu viel, viel zu viel zugemutet: Sie erzählen nämlich, als hätten sie dieselbe Ausbildung, dieselbe olympische Position gewonnen, dieselbe Weitsicht und Weltsicht wie all jene Erzähler, die gewohnheitsmäßig dem Autor nahestehen. Der elaborierte Code, den sie mühelos beherrschen, passt indessen ganz und gar nicht zu ihrer Körpersprache und noch weniger zu all den Mankos, die ihre Biografien aufweisen.

Elena und Ray erzählen, das ist nicht zu verkennen, niemals einander ihre Geschichten, sie sehen vielmehr akkurat die Leser des Romans vor sich: Es sei doch „töricht“, ja „absurd“ gewesen, erinnert sich beispielsweise Elena, noch in Amerika, „im Central Park das Gegenstück zu jenem wilden, geheimnisvollen Wald am Donauufer“ zu entdecken oder auch „die perfekte Linie, welche die Plattenbauten an der Strada Isaccei bildeten, mit jener der Häuser entlang des Central Park zu vergleichen, die bestimmt alle Architekturwunder waren; lichtdurchflutet, elegant bis in die hinterste Rohrabdeckung“.

Aber dann steht Ray eines Tages doch unvermutet an der Promenade in Tulcea, obgleich weit und breit kein Deus ex Machina auszumachen ist, der ihn unterstützt hätte, und er bewegt sich dort mit derselben Leichtigkeit, mit der Elena, auf der Suche nach einem geeigneten Terrain, die Asche ihrer Mutter auszustreuen, sich in New York, total couragiert sogar in Hell's Kitchen, umgesehen hat.

Allerorten herrscht auch in diesem Roman, wie in „Zaïra“ und „Jacob beschließt zu lieben“, tiefste Finsternis. Aber die Geschichten, die Elena und Ray vermitteln, die fiktiven Begebenheiten, die Catalin Florescu aus seiner Geschichtenwerkstatt auspackt, beleuchten trotzdem Figuren, die unter den schwierigsten Bedingungen nicht nur hin und wieder abstürzen, sondern trotz allem Solidarität üben und hilfsbereit bleiben. Und sie beleuchten vor allem atemberaubende Lebenswege, in denen sich die wechselvolle, insbesondere die schwarze Seite der Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. ■

Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt

Roman. 328 S., geb., € 20,60 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.