Kampf um das Bild

Überzeugend: Sabine Grubers Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ über das private und allgemeine Elend eines Kriegsfotografen liefert gleichsam nebenbei die Ehrenrettung für diesen Berufsstand.

Wie viel Zeit und Energie muss Leo Tolstoi wohl investiert haben, um einen Roman wie „Krieg und Frieden“ zu schreiben, wie viel Empathie und Arbeit muss es Joseph Roth gekostet haben, um die Details für seinen „Radetzkymarsch“ zu recherchieren? Was an einem Großteil der (deutschsprachigen) Gegenwartsromane so sehr langweilt, ist ihr enger Horizont, die Vermessenheit, mit der Autorinnen und Autoren die Relevanz ihrer eigenen biografischen Erfahrungen für Leser überschätzen. Da lobt man sich Schriftsteller, die sich für mehr interessieren als sich selbst, die Stoffe nicht nur suchen, sondern auch finden, die von allgemeinem Belang und literarisch wenig beackert sind.

Zum Beispiel das nur scheinbar exotische Thema der Kriegsberichterstatter. Christian Frei und Marcel Ophüls haben hervorragende Dokumentarfilme zum Thema gedreht. Von Nicolas Born gibt es den von Volker Schlöndorff verfilmten Roman „Die Fälschung“. Sonst aber spielt das Thema in der Belletristik allenfalls als ein Motiv unter vielen – etwa in Norbert Gstreins „Das Handwerk des Tötens“ – eine Rolle. Biografisch ist es für Sabine Gruber nur insofern, als sie mit einem bekannten Kriegsberichterstatter befreundet gewesen ist. Das mag für die Motivation zum Verfassen eines Romans entscheidend gewesen sein. Das Ergebnis ist weit mehr als die narzisstische Selbstäußerung einer Frau, die das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht hat.

Sabine Gruber erzählt die Geschichte des Kriegsfotografen Daldossi und zugleich die Geschichten, über die dieser berichtet. Die Konstruktion erlaubt ihr, aktuelle Themen, manchmal ausführlicher, manchmal auch nur kursorisch anzusprechen, mit jenem Sinn für den „Augenblick“, der vielleicht nicht dem Charakter des traditionellen Romans, wohl aber der Sichtweise eines Reporters entspricht. Das Wort Augenblick, das bereits im Untertitel vorkommt, trifft hier ja in seiner geläufigen, aber übertragenen Bedeutung, als Moment, wie in seiner wörtlichen Bedeutung – als Blick der Augen –den Tatbestand genau. Der Fotograf hält jenen Ausschnitt aus dem Zeitkontinuum fest, den sein Auge, und mit ihm das Objektiv seiner Kamera, erblickt hat.

Eine der Geschichten handelt von Flüchtlingen, die auf Lampedusa ausharren, wenn sie nicht schon auf dem Weg dorthin ums Leben gekommen sind. Näher an der Gegenwart kann ein Roman kaum sein. Aber was Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen als abstrakte Meldungen, ergänzt durch Statistiken, liefern, kann die dichterische Fantasie der Romanautorin mit Leben füllen. Aus Zahlen werden Individuen, mit Namen und Schicksalen.

Eingestreut in die ausgemalten Geschichten sind, kursiv gedruckt, sachliche Beschreibungen von einzelnen Fotos. Wirklichkeitspartikel – etwa die Namen der berühmten Fotografin Inge Morath, gleich dreier Staatspräsidenten oder die milieugerechten Wiener Kaffeehäuser Korb und Engländer – suggerieren nach bewährter Technik Authentizität. In diesem Kontext klingt es fast ein wenig lächerlich, wenn aus dem „Stern“, für den das Modell für Daldossi gearbeitet hat, eine Zeitschrift namens „Estero“ wird.

Sabine Gruber weicht auch der Frage nicht aus, die am häufigsten im Zusammenhang mit Kriegsberichterstattern diskutiert wird: ob sie, um einer „guten Geschichte“ oder eines „guten Bildes“ wegen, zu Voyeuren werden, statt Hilfe zu leisten. Sie macht sie fest an Kevin Carters berühmtem und preisgekröntem Foto eines halb verhungerten Kindes im Sudan, neben dem ein Geier wartet. Aber sie walzt das Beispiel nicht aus. „Daldossi ging es darum, das Schicksal der Leute zu teilen. Es ging um deren Würde. In so vielen Bildern und Reportagen seiner Kollegen steckte Verachtung.“ Das mutet rhetorisch an, trifft aber den Kern der Problematik.

Mit den oft nur angedeuteten Geschichten von diversen Kriegsschauplätzen – Tschetschenien, Bosnien, Irak – kontrastiert die private Handlung von der Zoologin Marlis, die Daldossi verlassen hat und für die der Tod des Lieblingsbären die größte Katastrophe ist, und von der Journalistin Johanna, wobei Daldossi zwar die zentrale Figur abgibt, die Erzählerin aber mehrmals die Perspektive wechselt und sich in andere Figuren hineinversetzt. Aber das private und das allgemeine Elend lassen sich nicht fein säuberlich trennen. Beide Aspekte des Lebens eines Kriegsfotografen bringt Sabine Gruber überzeugend zusammen. Darin wiederum besteht ein Vorzug eines Romans gegenüber einem Sachbuch. Der Augenblick hat, weitergedacht, ein Leben. Aber das Leben ist mehr als ein Augenblick.

Sprachlich nähert sich Sabine Gruber stellenweise mit Wörtern wie „pinkeln“ und „Schwanz“ dem Milieu ihres Gegenstands. Dann wiederum wechselt sie in eine literarisierte Sprache, die aber eher nüchtern bleibt, auf die eitle Überfrachtung mit Bildern verzichtet. Das Geschehen läuft schnell und unmittelbar ab, wie in einem Film. Die direkte Rede der Figuren ist ohne Anführungszeichen in den Bericht eingebaut. „Rückblenden“ unterbrechen den Erzählfluss und liefern Informationen, die das Verständnis der Gegenwartshandlung erleichtern. Manchmal drängt die „private“ Geschichte allzu sehr in den Vordergrund, nimmt sie allzu breiten Raum ein, als hätte sich Sabine Gruber verpflichtet gefühlt, das 300-Seiten-Pensum zu erfüllen. Manche Abschweifung gibt eher den Anschein von Füllstoff als von einem erhellenden, vertiefenden Detail.

Wer zwischendurch die Geduld zu verlieren fürchtet, sollte durchhalten. Denn die letzten 30Seiten sind die schönsten des Romans. Die erwartete Pointe bleibt aus. Das wirkliche Leben ist dramatischer als die Fiktion, wenn man nicht in die Nähe der Kolportage geraten will. Stattdessen beschwört Sabine Gruber eine Stimmung wie am Ende von Atonionis „Beruf: Reporter“. Besseres lässt sich über einen Roman nicht sagen. ■

Sabine Gruber
Daldossi oder Das Leben des Augenblicks

Roman. 320 S., geb, € 22,60 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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