Wo man nicht fällt

Der heikle Umgang mit Lüge und Wahrheit steht im Zentrum des Romans „So fängt das Schlimme an“ von Javier Marías. Zeit des Geschehens ist der sanfte Übergang Spaniens zur Demokratie nach der Franco-Diktatur.

Die Lüge hat einen schlechten Ruf, und doch (ge-)brauchen wir sie täglich. Sie ist eine Gefahr für das harmonische Zusammenleben und dabei eine dafür nötige Voraussetzung. Eltern von Kindern sind oft entsetzt, wenn die süßen Kleinen anfangen zu lügen, und sollten es doch als Zeichen geistiger Reife begreifen, als einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Erwachsensein.

Dieses Paradoxon macht sich auch die Literatur zunutze: Leser und Autor gehen eine stille Verabredung ein, durch die eine fiktive Geschichte als Zwillingsschwester der Wirklichkeit auftreten und das darin Erzählte durch den Leser als wahr empfunden werden kann. Javier Marías ist ein Autor, der in vielen seiner Romane diese Beziehungen vonLiteratur und Realität thematisiert hat, so zuletzt in „Die sterblich Verliebten“. Kann man ein Leben auf einer Lüge aufbauen? Ist es Mut oder doch eher Feigheit, eine unangenehme Wahrheit zu verschweigen?

Im Jahr 1980 befindet sich Spanien mitten in der „Transición“, den ersten Jahren jenes friedlichen Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie. Damals ist der Erzähler ein junger Mann, und sein Name, Juan de Vere, erinnert nicht ganz unbeabsichtigt an Edward de Vere, Earl von Oxford, den einige Experten für den Urheber der Werke Shakespeares halten. Juan findet nachdem Studium einen ersten Job als Assistent eines Filmregisseurs. Aus nächster Nähe wirder nun Zeuge des „unauflöslichen Unglücks“ der Ehe von Eduardo Muriel und Beatriz Noguera. Unauflöslich, weil es die Scheidung in Spanien noch nicht gibt, erst 1981 wird sie in Spanien gesetzlich möglich.

Juan erlebt Eduardo als attraktiven Bourgeois mit linken Sympathien und einer Klappe über dem rechten Auge. Ein recht klares Sinnbild für die damalige Lage Spaniens, als man den großen Mantel des Schweigens über die Verbrechen der Diktatur breitete, eine für viele lügenhafte Aussöhnung mit derAbsicht, ein weiteres Zusammenleben in demLand überhaupt möglich zu machen. So erzählen alle weiter ihre Versionen der Geschichte, und ein zentrales Thema des Romans ist, ob so ein Vergeben, auf sozialer wieauch privater Ebene, möglich ist.

Wenn Eduardo Juan, der bald engen Familienanschluss hat, etwas erzählt, tut er das gern auf dem Boden liegend, denn „hier kann man weder herunter- noch tiefer fallen“. Einmal fragt er Juan, was er täte, wenn man herausfände, dass ein alter Freund nicht immer der gewesen wäre, der er heute ist. Verdacht und Misstrauen beginnen das Denken zu beschäftigen. Eduardo hat erfahren, dass sein Freund Jorge, ein prominenter Arzt, „sich einer Frau gegenüber schamlos verhalten haben soll, womöglich nicht nur einer“. Juan kann sich keinen Reim darauf machen, und doch nimmt er den Auftrag an, er solle mit dem Arzt „über die Häuser ziehen“, ihn beobachten, aushorchen. Juan ist also kein neutraler Beobachter mehr, Neugier, Voyeurismus und (sexuelle) Begierde verwickeln ihn ins Geschehen. Später weiß er: „Ich war zu tief in alles eingedrungen, oder vielmehr war das Ehepaar durch mein Leben gezogen, das eines Debütanten.“

Juan hat den schlechten Zustand der Ehe der beiden längst mitbekommen, Eduardo benimmt sich seiner Frau gegenüber gehässig. Eines Nachts wird Juan, der weit mehr Familienanschluss als ein simpler Angestellter hat, Zeuge einer für Beatrix erniedrigenden Szene. Eduardos Schlafzimmer ist ihr verboten, und doch steht sie mehrmals davor und versucht flehentlich, Eingang zu erhaschen, um Liebe von ihrem Mann zu erfahren. „Du hast schlagartig ein Ende gemacht, wegen einer so alten dummen Geschichte.“ Was genau passiert ist, hört Juan nicht, nur dass Beatrix' dauernde Bestrafung durch Eduardo mit einer Lüge zusammenhängt: Beatrix hätte mit ihrer Täuschung bis zum bitteren Ende gehen sollen, alles vorher sei durch ihr Geständnis entwertet. „Man muss seinen Lügen treu bleiben.“ Anders als seine Landsleute auf der gesellschaftlichen Ebene kann Eduardo in seiner privaten Katastrophe weder vergeben noch vergessen.

Dann findet Juan heraus, dass Beatrix sich mit Männern zum Sex trifft, teilweise mit dem ominösen Jorge. Längst ist Juan kein bloßer Beobachter mehr, dafür ist er den beiden schon zu nahe gekommen und wird ihnen noch näher kommen. Die Lebensbildung des „jungen de Vere“, wie der Erzähler oft genannt wird, wird um entscheidende Kapitel bereichert. Ohne Einmischung erfährt man keine Geschichte – und die Geschichte nimmt einen anderen Verlauf, weil man sich einmischt. „Immer treten wir zu spät in das Leben der anderen.“

Jorge stellt sich bald als Schwein heraus, der sich Frauen zu Francos Zeiten gefügig machte, indem er ihnen Angst machte oder seine Arztposition ausnutzte. Auch in den liberalen und sexuell freizügigeren Zeiten, die im Überschwang der Erlösung vom Franco-Regime angebrochen sind, behält er seine erpresserischen Methoden bei. Alles beschleunigt sich, als Beatrix einen Selbstmordversuchunternimmt, den dritten, wie sich herausstellt. Jorge rettet sie, und Eduardo verzichtet aus Dankbarkeit auf weitere Nachforschungen. Da hat er aber nicht mit dem Erzähler Juan gerechnet hat, der auf eigene Faust weitermacht. Und dann „fängt womöglich das Schlimme an, doch das Schlimmere bleibt zurück“ (siehe Hamlet: „Thus bad begins andworse remains behind“). Eduardos Bitte, auf die sich erholende Beatrix aufzupassen, kommt Juan im besten Sinn nach – und verführt sie. Ist es ihre Dankbarkeit oder dem Umstand zu verdanken, dass sie Juan als „eine Erweiterung von Muriel“ ansieht? Man wird es nie erfahren.

Immer wieder sind es die Nebenfiguren, die der Erzählung Schwung und Tiefe verleihen, so etwa die Auftritte des realen Professors Rico oder eines Onkels von Marías: Jesús Franco oder Jess Frank ist der große imaginäre Konkurrent Muriels, der seine Filme schnell, trashig und ohne Skrupel dreht. „Heute ist er weltweit fast zur Kultfigur geworden, aber in Wirklichkeit sind die meisten seiner Filme erbärmlich, wenn auch verrückt und sympathisch.“

„So fängt das Schlimme an“ ist ein großer Bildungs- und Gesellschaftsroman, einer der besten Marías'. Warum Juan seine Geschichte überhaupt erzählt, enthüllt sich in einer überraschenden Schlusspointe, denn die „Vergangenheit hat eine Zukunft, mit der wir niemals rechnen“. ■

Javier Marías

So fängt das Schlimme an

Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. 640 S., geb., € 25,70
(S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.