Wer bin ich?

Dmitrij Kapitelman sinnt in dem autobiografisch gespeisten Israel-Reiseroman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ möglichen Identitäten nach: Ukrainer? Jude? Moldauer? Halbjude? Deutscher? Oder einfach „Mängelware“?

Dmitrij Kapitelman, Sohn einesukrainisch-jüdischen Vaters und einer nicht jüdischen moldawischen Mutter, die in den 1990ern als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland ausgewandert sind, kann einem richtig leidtun. In seinem aus der Ich-Perspektive erzählten, autobiografischen Israel-Reisebericht bezichtigt sich der in der Erzählzeit etwa 30-jährige Autor als Mängelware, Halbblüter, Falschjude, Jude zweiter Klasse, verlogener Gläubiger, Nichtvollblutdeutscherund doppelmoralisches Arschloch. Sein „inneres Gericht“, sein Über-Ich, wenn man so möchte, berät auf 288 Seiten unbarmherzig über Identität und Zugehörigkeit. Während der Autor diese Identitätsbestimmung mit Ironie darzustellen versucht, ist Amazon weniger behutsam. Unvermittelt wird der Autor in der Produktbeschreibung als „halber Jude“ etikettiert. Man fragt sich, wie ein halber Jude aussehen könnte und ob man den Textern Victor Klemperers Reflexionen über die Sprache des Nationalsozialismus zukommen lassen könnte. Aber zurück zur eigentlichen Identitätsmelange.

Dmitrij Kapitelman ist Sohn einer nicht jüdischen Mutter und daher nach dem jüdischen Religionsgesetz kein Jude: Es gilt das Abstammungsprinzip. Konsequenterweise nimmt die Mutter, nach einer ersten namentlichen Erwähnung zu Beginn durchgehend als Chefin bezeichnet, im weiteren Verlauf eine untergeordnete Rolle ein. Der ein paar Mal zu oft Papa gerufene Leonid Kapitelman („ganzer Jude“) und seine Beziehung zum Sohn Dmitrij bilden die Haupterzählung. Der Roman startet mit dem Entschluss, Israel zu bereisen, Dmitrij erhofft sich davon, dass sich sein „unsichtbarer Vater“ offenbare, und rekapituliert während der Reisevorbereitungen immer wieder seine eigene Familiengeschichte.

Im Volksschulalter erlebt Dmitrij die Emigration nach Ostdeutschland: Asylheim in Meerane, später Umzug in eine Leipziger Plattenbausiedlung. Eindrücklich beschreibt Kapitelman dabei die höchst aktive Neonazi-Szene und eine stets gegenwärtige Angst vor gewaltbereiten Gangs. Er zieht dabei auch Erzähllinien zum aktuellen Rechtsradikalismus rund um die Pegida-Bewegung. Vater Leonid gibt Dmitrij mit auf den Weg, dass er als Jude „immer besser sein müsse“ als alle anderen, zeigt sonst aber keine besondere Affinität zum Judentum. In der sowjetischen Ukraine blieb Leonid als Jude eine Karriere als Mathematiker verwehrt, stattdessen arbeitete er in einem staatlichen Planungsbüro und verdiente sich als „Spekulant“, also als Händler von Aktenkoffern, Stoffen und sonstiger Ware, ein Zubrot. Obwohl viele der besten Freunde nach Israel emigrierten, entschied sich Leonid Kapitelman für Deutschland, wo er als Gemischtwarenhändler zwar ein Auskommen fand, aber stets ausgegrenzt und argwöhnisch blieb. Die Eltern haben sich ein nostalgisch-verklärtes Verhältnis zur Ukraine und der Sowjetunion bewahrt, halten wechselweise Wladimir Putin und später Benjamin Netanjahu für vernünftige Politiker. Gegenüber der deutschen Gesellschaft entwickelten sie bestenfalls ein taktisches Verhältnis.

In Israel klappern Vater und Sohn, einen „Lonely Planet“-Reiseführer im Gepäck, verschiedenste Stationen ab. Leider liest sich der Text stellenweise selbst wie der Inhalt eines Reiseführers, interessant, aber schleppend: Tel-Aviv, Hebron, Jerusalem, Totes Meer, Rotes Meer, Besuch des Grabes eines alten Freundes, Gespräch mit einem orthodoxen Juden und Reflexionen über die israelische Gesellschaft – alles voraussehbar, wennauch gekonnt und mit einigem Humor erzählt. Der Vater findet beim Besuch der Klagemauer zu einer unvermuteten Spiritualität,der Sohn überlegt die Ausreise nach Israel, entschließt sich letztlich aber dagegen.

Höhepunkt ist Dmitrijs Fahrt in die palästinensischen Autonomiegebiete, die er, nach einem Streit mit dem Vater, allein antreten muss. Er entscheidet sich dafür, als er sich selbst fragt, ob er ein „aufrechter, guter und gerechter Mensch“ oder das Gegenteil sei: „Einer, der schafft oder zerstört?“ Der Leser freut sich, dass sich der Autor über diesen Satz – ansatzweise – im weiteren Verlauf lustig macht. Dmitrij schließt Freundschaft mit palästinensischen Studenten und beginnt zu verstehen, wie aporetisch der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist. Erzählerisch gehören die Szenen in Ramallah und Nablus sicher zu den stärksten Passagen. Sollte sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen haben, forderte eine Reise in die Autonomiegebiete, in der aufgeheizten Stimmung nach dem letzten Gaza-Krieg 2014, sicher auch einiges an Mut. Die Erzählung wird mit allgemeinen Überlegungen über Vater-Sohn-Beziehungen und tugendethischen Schlussfolgerungen zum Israel-Palästina-Konflikt geschlossen.

Ist Kapitelmans „unsichtbarer Vater“ nur ein weiteres ultrasubjektives Selbstfindungsbuch? Ganz so einfach ist es nicht. Sartre beschreibt das Dilemma, in dem sich Juden befänden, als eines, in dem der Antisemit dem jüdischen Menschen feinselig gegenübersteht, sein Gegenspieler, der „liberale Demokrat“, hingegen dem sich selbst als Juden verstehenden Juden. Noch präziser schrieb dazuder österreichische Shoa-Überlebende Jean Améry: „Die Gesellschaft wollte mich als Juden, ich hatte den Urteilsspruch anzunehmen.“ Ein jüdisches Selbstverständnis zu entwickeln hat also zuvorderst nicht unbedingt etwas mit Identitätspolitik zu tun, sondern mit der Bedrohung, die damit einhergeht, als jüdisch betrachtet zu werden.

Der Roman ist eine notwendige Auseinandersetzung, auch wegen des Bezugs auf die Neonazi-Szene und sonstige rechte Umtriebe. Kapitelman schreibt über ein an Israelorientiertes jüdisches Selbstverständnis. Bei aller Kritik, die Kapitelman an der israelischen Politik übt, geht ihm diese Perspektive niemals verloren. Einer Überdosis „Identitin“ (wie es der Autor nennt) und der Darstellung einer Vater-Sohn-Beziehung, der es phasenweise leider doch an Schärfe fehlt, stehen erzählerisches Geschick und gekonnte Selbstironie gegenüber. ■

Dmitrij Kapitelman

Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters Roman. 288 S., geb., € 20,60 (Hanser Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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