Benefize für die Spitze

Globalisierung, technologische Entwicklung, Auflösung üblicher Arbeitsverhältnisse – das sind nur einige Phänomene, die für eine Zunahme der Ungerechtigkeit sorgen. Zwei Ökonomen suchen nach einem sozialen Ausweg.

Einkommensverteilung ist ein großes Thema geworden. Thomas Pikettys „Kapital“ wurde millionenfach verkauft, wenn auch vielleicht nicht immer gelesen. Das Thema bekam innerhalb der Fachdisziplin eine größere Bedeutung. Die damit ausgelöste politische Diskussion zog weitere Publikationen für die breitere Öffentlichkeit nach sich. Die hier besprochenen sind zwei interessante Beispiele: Anthony Atkinson, Professor in Oxford, hat sich in seiner ganzen wissenschaftlichen Tätigkeit vor allem mit Ungleichheit beschäftigt. Das macht man nur, wenn man steigende Ungleichheit als ein Übel sieht. Marcel Fratzscher, Professor in Berlin, ist Leiter eines der großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Seine eigenen Forschungen waren zwar nicht um Fragen der Einkommensverteilung zentriert, aber an dem von ihm geführten Institut werden Studien zu Verteilungsfragen gemacht. Auch für ihn ist die steigende Ungleichheit ein Übel.

Piketty untersuchte den Anteil desobersten Prozents am Gesamtprodukt über eine lange Zeit. In den neuen Büchern geht es auch um die Verteilung innerhalb der unteren 99 Prozent. Die den Haushalten zur Verfügung stehenden Einkommen sind die entscheidende Größe. Die Verteilung der Arbeitseinkommen und die Resultate der Umverteilung durch den Staat werden in die Analyse einbezogen. Nur ein kurzer Zeitraumwird dargestellt, meist zwei Jahrzehnte.

Beide Autoren zeigen, dass der Anstieg der Ungleichheit viele Ursachen hat. Die üblichen Verdächtigen werden vorgeführt: Die Globalisierung der Produktionsketten bewirkt einen Anstieg der Ungleichheit vor allem am unteren Ende der Einkommensverteilung – die wenig Qualifizierten verlieren. Die Migration von Personen mit nur wenig Qualifikation verstärkt diesen Prozess. Am oberen Ende findet man viele Gewinner der Globalisierung. Die Spitzen der Unternehmen wurden früher aus dem eigenen Reservoir durch Aufstiege in Hierarchien besetzt. Heute werden sie wesentlich häufig durch Abwerben von anderen Unternehmen gefunden. Das treibt die Einkommen der Spitzenleute stärker nach oben. Dass nur ein einzigerSpieler der österreichischen Nationalmannschaft derzeit in einem österreichischen Klubspielt, hat die Ungleichheit unter österreichischen Fußballspielern erhöht.

Auch die technologische Entwicklung, als Ursache steigender Ungleichheit oft genannt, wird von den Autoren angeführt. Die mittleren Qualifikationen werden durch neueTechnologien ersetzbar, und diese Arbeitsplätze gehen verloren. Mit diesen Aussagen muss man aber etwas vorsichtig sein. Sowohl während der industriellen Entwicklung Europas als auch in der Automatisierungszeit des 20. Jahrhundert wurde Arbeitslosigkeit von vielen prophezeit. Es ist anders gekommen. Neue Arbeitsplätze für qualifizierteArbeitskräfte sind entstanden, und es wurde die Arbeitszeit stark verkürzt. Die Lebenserwartung stieg in den vergangenen 50 Jahrenum circa zehn Jahre, die Zeit der Ausbildung ebenfalls. Da das Pensionsanfallsalter nicht anstieg, sank die Arbeitszeit als Anteil an der Lebenszeit. Freilich folgt daraus nicht, dass es auch jetzt anders kommen wird, nämlich die verschwindenden Arbeitsplätze durch neue ersetzt werden und die Arbeitszeit weiter reduziert wird.

Die Ungleichheit nimmt zu

Die Auflösung traditioneller Arbeitsverhältnisse – volle Wochenstundenzahl, keine Befristung, direkte Beschäftigungsverhältnisse ohne Umweg über Drittfirmen – ist für beide Autoren eine weitere Quelle für steigende Ungleichheit, ebenso die steigende Bedeutung des Finanzsektors. Dazu kommt die von Piketty aufgezeigte Ungleichheit der Vermögen und damit der Kapitalerträge. Vor allem in Fratzschers Buch ist das ein wichtiger Punkt, da in Deutschland die Ungleichheit der Vermögen besonders hoch ist.

Steigende Ungleichheit kann auch Folge von Entwicklungen sein, die man meist positiv sieht, nämlich steigende Erwerbstätigkeit der Frauen in Verbindung mit steigender Gleichheit der Ausbildung bei einem Paar. Früher waren vor allem Frauen aus ärmeren Haushalten erwerbstätig – „sie müssen arbeiten, weil es anders nicht geht“. Heute ist es für Frauen mit hoher Qualifikation meist selbstverständlich, eine eigene Berufslaufbahn anzustreben. Sie haben weniger Kinder und nehmen kürzere Karenzzeiten als Frauenmit weniger Ausbildung. Das erhöht ebenfalls die Ungleichheit des verfügbaren Einkommens der Haushalte. Dieser Effekt wäre sogar noch stärker, hätten Frauen tatsächlich die gleichen Chancen wie Männer.

Diese Entwicklungen sind nicht neu. In beiden Büchern werden sie gut erklärt. Sie dominieren zunehmend das politische Geschehen. Gefordert wird weniger wirtschaftliche Integration und mehr nationale Autarkie. So sollen die Verhältnisse wieder besser werden. Dieser Glaube ist eine starke politische Kraft geworden. Freilich, wie das funktionieren kann, wird von den Proponenten dieses Weges nicht gesagt. Würde man etwa die Textilindustrie durch Importbeschränkungen schützen, so wäre den Textilarbeiterinnen – meist sind es Frauen – geholfen. In der Folge wären Textilien für alle teurer. Sollen Forschungsinstitute angehalten werden, nur mit permanent Angestellten zu arbeiten? Soll den Supermärkten die Möglichkeit genommen werden, an Samstagen mehr Personal als zu Beginn der Woche zu beschäftigen? Sollen Frauen wieder zurück an den Herd? Eine Abkehr von der wirtschaftlichen Integration wäre der Versuch einer Reise in die Vergangenheit.

Will man sich mit der steigenden Ungleichheit nicht abfinden, so müssen Politiken verfolgt werden, die nicht eine Rückkehr zu vergangenen Zeiten propagieren. Drei Anknüpfungspunkte gibt es dafür. Man kann in die Bildung von Einkommen eingreifen. Die Umverteilung von den hohen zu niedrigen Einkommen kann ausgebaut werden. Schließlich kann man die mit steigender Ungleichheit verbundenen nachteiligen Folgen bekämpfen. Beide Autoren diskutieren diese Möglichkeiten der Politik, da sie davon ausgehen, dass die wirtschaftliche Integration nicht fundamental zurückgefahren werden kann. Die beiden Autoren gehen dabei unterschiedliche Wege, die wohl auch unterschiedlichen Erfahrungen und Positionen entsprechen. Fratzscher ist stärker in die direkte politische Diskussion um konkrete Gesetzesvorhaben eingebunden als Oxford-Professor Atkinson. Er hat mehr Freiheit, Fragen der Einkommensverteilung mit jenen von Gerechtigkeit und langfristigen politischen Zielen zu verknüpfen. Sein Interesse gilt nicht der kurzfristigen politischen Umsetzbarkeit seiner Vorschläge.

Für beide ist die mit steigender Ungleichheit einhergehende geringere soziale Mobilität von großer Bedeutung. Insbesondere sind die Chancen auf besseres Einkommen aufgrund besserer Ausbildung für Kinder aus ärmeren Haushalten schlecht. Das ist nicht nur eine Frage der Verteilung. Wenn jemand aufsteigt, muss nicht ein anderer absteigen. Das betont vor allem Fratzscher. In Deutschland könnten mehr Arbeitskräfte mit hoher Qualifikation Beschäftigung finden. Das gilt auch für Österreich. Es bedarf daher Maßnahmen, um die Weitergabe niedriger Qualifikation von einer Generation zur nächsten zu verringern. Interessant ein Hinweis von Atkinson: Ein Universitätsstudium soll nicht der einzige vom Staat geförderte Weg der Erwerbung von hohen Qualifikationen sein. Es wird dadurch vor allem die Mittelschicht gefördert. Das wurde auch für Österreich in Verteilungsstudien des Wifo nachgewiesen. Es ist wirklich unverständlich, wieso Studierende an Universitäten keine Studiengebühren zahlen müssen, jene an Fachhochschulen aber schon. Und wie viel Steuergelder stehen in Österreich für die Weiterbildung von Lehrabsolventen zur Verfügung?

Die beiden Autoren unterscheiden sich in der Einschätzung des Ausbaus der staatlichen Umverteilung. Fratzscher ist skeptisch gegenüber mehr Umverteilung im Wege von durch Steuern finanzierten Transferzahlungen. Er fürchtet wohl ein Wiederaufleben der langfristigen Arbeitslosigkeit wie in den 1990er-Jahren. Diese hat man zwar bewältigt, dabei wurde aber akzeptiert, dass Erwerbstätigkeit Armut nicht ausschließt. Genau deshalb müsse die Möglichkeit, durch Arbeit zu einem Einkommen klar oberhalb der Armutsgrenze zu kommen, verbessert werden. Atkinson hingegen spricht sich für eine stärker progressive Besteuerung der Einkommen und für einen Ausbau der Transferzahlungen an die Ärmeren aus. Einer seiner Vorschläge ist in Österreich bereits Realität, wenn auch auf niedrigerem Niveau, als er es sich vorstellt. Er schlägt einen neuen Transfer vor: ein „Partizipationseinkommen“. Es soll an Haushalte gezahlt werden, wenn die Summe aus anderen Transfers und allfälligem Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Alle sollen an der Gesellschaft partizipieren können. Das ist auch die Grundidee der österreichischen Mindestsicherung.

Bei der Diskussion der Besteuerung der Erbschaften unterscheiden sich beide Autoren stark. Fratzscher greift in die laufende deutsche Diskussion um eine Reform der Erbschaftssteuer ein. Es geht um die Begünstigung der Vererbung, wenn dadurch die Weiterführung eines Unternehmens gesichert wird. Da für die deutsche Wirtschaft Familienbetriebe sehr bedeutend sind, ist das eine wichtige Frage. Der Autor kann sich aber gut vorstellen, diese Begünstigung zu reduzieren. Er weiß auch, dass sonst der Erbschaftssteuer das österreichische Schicksal droht, nämlich abgeschafft zu werden.

Armut trotz Erwerbsarbeit

Atkinson ist radikaler. Nicht die Erbschaft sollbesteuert werden, sondern das geerbte Vermögen im Rahmen der Einkommensteuer beim Erben. Es ist natürlich nicht möglich, eine Steuer im Jahr des Empfangs der Erbschaft mit den von ihm vorgeschlagenen hohen Steuersätzen zu zahlen. Stattdessen soll eine spezielle Steuer als eine Art Ertragssteuer aus dem geerbten Vermögen eingehoben werden. Er weist auf eine solche Steuer in Irland hin. Mit den Erträgen der Steuer soll eine„Erbschaft“ an alle Personen bei Erreichung eines bestimmten Alters gezahlt werden. Bei der Verwendung dieser „Erbschaft“ soll es freilich Schranken geben.

Vorschläge dieser Art haben den Beigeschmack sozialer Konstruktion. Sie sollen aber ernst genommen werden. Es geht doch um konkrete Probleme. In diesem Fall: Für junge Menschen ganz ohne Ressourcen ist in den meisten europäischen Staaten für eine akademische Ausbildung gut gesorgt. Aber das soll nicht der einzige geförderte Start in das Berufsleben sein. Dadurch wird, wie oben angeführt, vor allem die Mittelschicht gefördert. Atkinson betont das ausdrücklich. Freilich, es müssen auch die Argumente gegen die spezifischen Vorschläge ernst genommen werden. Etwa, wie entscheidet eine Behörde, ob denn eine spezifische Verwendung einer solchen „Erbschaft“ zulässig ist oder nicht?

Man kann davon ausgehen, dass es keine Möglichkeit einer Politik der Reduzierung von Ungleichheit gibt, die nur Vorteile hat. Das soll nicht dazu führen, dieses politische Ziel aufzugeben. Die beiden Bücher sind in dieser Diskussion wichtig. Jenes aus Deutschland ist eine fundierte Streitschrift. Die darin beschriebenen Verhältnisse sind jenen in Österreich näher als jene im anderen Buch. Das Buch aus dem Vereinigten Königreich ist ausführlicher argumentiert und daher umfangreicher, wenn auch nicht ein dem Buch von Piketty vergleichbarer Wälzer. ■

Anthony B. Atkinson

Ungleichheit

Was wir dagegen tun können. Aus dem Englischen von Judith Elze. 474 S., geb., € 27,70 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

Marcel Fratzscher

Verteilungskampf

Warum Deutschland immer ungleicher wird. 264 S., geb., € 20,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)

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