Zwischen den Fronten der Familie

„Der letzte große Trost“: Stefan Slupetzky über eine Wiener Familie im Wandel der Zeiten.

Mit seinem neuen Roman verlässt Stefan Slupetzky das Genre des Kriminalromans, das er mit seinen „Lemming-Romanen“ bereicherte, und erzählt eine stark autobiografisch gefärbte Geschichte, die viele historische Eckpunkte des vergangenen Jahrhunderts tangiert. Der in eine mittelständische Wiener Familie Anfang der 1960er-Jahre hineingeborene Studienabbrecher und nunmehrige Industriefotograf Daniel Kowalski lebt mit Frau Marion und Kindern in der gutbürgerlichen Josefstadt. Im Wienerwald gibt es noch ein ererbtes Grundstück mit einer kleinen Villa, das Erbe aber ist – eine Folge der disparaten Familiengeschichte – umstritten.

Im Alter von 22 Jahren verliert Daniel seinen Vater durch einen Herzinfarkt. Der Schock wirft den jungen Mann aus der Bahn, die Liebe seiner Frau vermag ihm kaum über den Verlust hinwegzuhelfen. Wenige Jahre später erleidet seine knapp 50-jährige Mutter eine zerebrale Blutung und landet als Pflegefall nach anfänglicher häuslicher Betreuung in einem Heim bei Klosterneuburg. Gewissenhaft erfüllt Daniel die Sohnespflicht, zweiwöchentlich besucht er die „leidlich konservierte Zimmerpflanze“.

Eines Tages macht er sich auf, im nahen Weidlingbach das Haus der Eltern zu besuchen, das seit Jahrzehnten zwischen den verwandtschaftlichen Fraktionen umfehdet ist. Eingeflochten in die Betrachtungen eines Mannes in den bestenJahren, der an den Plätzen seiner Kindheit von Erinnerungen überwältigt wird, entwirft der Autor das Bild seiner Familie. Die Mutter entstammt einer jüdischen Familie, die im Holocaust einen Großteil der Verwandtschaft verliert – so beim SS-Massaker im burgenländischen Rechnitz und bei den Massenmorden der ungarischen Pfeilkreuzler am Budapester Donauufer.

Abgestürzt im Jom-Kippur-Krieg

Raul Wallenberg, der schwedische Gesandte in Budapest, und der Schweizer Zöllner Paul Grüninger, der vielen Verfolgten das Leben rettete, haben hier ihren Auftritt. Einem Teil der Familie gelingt die Flucht nach Israel, Tod und Gewalt bleiben aber präsent. Eine Tochter kommt 1954 bei einem palästinensischen Feuerüberfall ums Leben; ihr Bruder, Pilot der israelischen Luftwaffe, wird im Jom-Kippur-Krieg 1973 abgeschossen;1980 stirbt ein 14-jähriger Enkel, als seine Schülergruppe während einer Bergwanderung von einem PLO-Kommando hingemetzelt wird.

Großvater Johann Kowalski führt die Täterseite der Familie an. Schon vor dem Ersten Weltkrieg produzierte er Chlor- und Senfgas. 1920 nimmt er am Gründungsparteitag der NSDAP in München teil und freut sich über eine niedrige Mitgliedsnummer. Mit Adolf Eichmann und anderen Nazigrößen steht er in den folgenden Jahren auf Duzfuß. Im Dritten Reich entwickelt er schließlich das „Kowalski-Prinzip“, die Umrüstung von Lastkraftwagen zu fahrenden Tötungsmaschinen, in denen Zehntausende Regimegegner und behinderte Menschen vergast werden.

Manchmal droht die Wucht der historischen Begebnisse die Erzählung zu erdrücken, schließlich kehrt der Autor aber zu seinem Helden zurück und lässt ihn einem märchenhaft anmutenden Finale zustreben, das allerdings konsequent und glaubwürdig in die Familiengeschichte eingebettet ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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