Kein Gesicht, keine Gestalt

„Der Vorgang Benario“: Als Komintern-Agentin wird Olga Benario 1936 von den brasilianischen Behörden an die Gestapo ausgeliefert und bringt im KZ Ravensbrück ein Kind zur Welt. Robert Cohen hat die Gestapo-Akte studiert.

Es passiert eher selten, dass ein Autor, eine Autorin immer wieder denselben Stoff aufgreift. Noch seltener ist, dass er oder sie sich dabei eigene Erfindungen mehr und mehr versagt. Robert Cohen ist so ein Fall. Der Schweizer Filmregisseur und Literaturwissenschaftler, der seit Langem in New York lebt, hat 2009 im „Exil der frechen Frauen“, einem ungemein dichten und fein gearbeiteten Epochenroman, drei deutschen Kommunistinnen ein Denkmal gesetzt. Eine von ihnen war die aus München stammende Komintern-Agentin Olga Benario, die im Oktober 1936 von den brasilianischen Behörden an die Gestapo ausgeliefert wurde und noch im selben Jahr im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße ein Mädchen zur Welt brachte. Kindesvater war der ehemalige Berufsoffizier Luiz Carlos Prestes, der Mitte der 1920er-Jahre mit einer Rebellenarmee 25.000 Kilometer zurückgelegt hatte, um die arme Bevölkerung Brasiliens für den Kampf gegen die Oligarchie zu gewinnen.

Im Moskauer Exil lernte er Olga Benario kennen, kehrte mit ihr heimlich nach Brasilien zurück und beteiligte sich an einem Aufstand gegen den Diktator Getúlio Vargas. Der Umsturzversuch scheiterte, Prestes, Benario und die mit ihnen nach Rio de Janeiro entsandten deutschen Kommunisten Arthur und Elise Ewert wurden verhaftet, Letztere ebenfalls nach Deutschland abgeschoben. Sie kam im Herbst 1939 im KZ Ravensbrück ums Leben, im selben Lager, in das auch Olga Benario deportiert worden war. Davor hatte Benario sich von ihrer Tochter trennen müssen; die kleine Anita Leocádia war mit knapp 14 Monaten Prestes' Mutter übergeben worden, die ihr Enkelkind mit sich nach Paris, dann nach Mexiko nahm. Prestes selbst, zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, wurde 1945 begnadigt. Zu diesem Zeitpunkt lebte seine Gefährtin nicht mehr; sie war Ende April 1942 in der Gaskammer der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg ermordet worden. „Herzinsuffizienz bei Darmverschlingung und Peritonitis“, lautete die offizielle Todesursache.

Vier Jahre nach Erscheinen seines Romans nahm Cohen die Geschichte von Olga Benario und Luiz Carlos Prestes wieder auf, in einem sorgfältig edierten Briefband mit dem Titel „Die Unbeugsamen“. Damit sind die beiden Liebenden gemeint, die sich von Einzelhaft, Verhör und Folter nicht brechen ließen. Die zwischen ihnen gewechselten Briefe künden von der zärtlichen Sorge um die gemeinsame Tochter, über deren Gedeihen die stillende Mutter dem fernen Vater in allen Einzelheiten berichtet.

Man fragt sich beim Lesen unwillkürlich, wie denn die Beamten beschaffen waren, die diese Briefe lasen, bei Bedarf zurückhielten oder stellenweise einschwärzten, wie sie aussahen, wovon sie träumten, ob sie manchmal Mitleid empfanden oder Wut, Selbsthass, und sich deshalb für den „Schutzhäftling“ Benario neue Schikanen ausdachten. In seinem eben erschienenen Buch geht Cohen dieser Frage nach. Das Material hierfür ist ihm durch die Onlinepublikation von bisher gesperrten Akten des Deutschen Reiches aus russischen Archiven im vergangenen Jahr gewissermaßen in den Schoß gefallen.

Acht Gestapo-Akte, 2000 Blatt, befassten sich nur mit Olga Benario. „Der von der Gestapo so genannte ,Vorgang Benario‘ ist die vielleicht umfassendste Sammlung von Dokumenten zu einem einzelnen Opfer des Holocaust“, schreibt Cohen. „Zugleich bildendiese Dokumente – unvermeidliche Dialektik – eine umfassende Selbstdarstellung der Täter und der Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen, die sie leiten. Indem sie den ,Vorgang Benario‘ beinahe Tag für Tag aktenmäßig verhandeln, tun die Täter, was sie nicht wollen können: Sie geben Auskunft über sich selbst.“

Das ist richtig und bedarf doch einer Einschränkung: Was aus den Gestapovermerken, Verhörprotokollen, Spitzelberichten, Zeitungsausschnitten und Protestschreiben hervorgeht, macht diejenigen, die das alles verfasst oder zusammengetragen haben, nicht sichtbar. Ich sehe sie nicht vor mir, sie bekommen kein Gesicht, keine Stimme, keine Gestalt. Nur ein Geschlecht: männlich, aber das ist der Zeit geschuldet.

Wahrscheinlich wäre es ohnehin von geringem Erkenntniswert, würde man aus den Akten mehr über die Persönlichkeitsstruktur der Gestapoleute erfahren. Trotzdem liest man ihre Einträge mit angehaltenem Atem – und in der Hoffnung, es könnte Olgas Schwiegermutter, den vielen Komitees und Einzelpersonen im demokratischen Ausland gelungen sein, die Frau zu retten. Das ist eine doppelt verrückte Hoffnung. Erstens, weil Olga Benario, hätte man sie nach Frankreich oder Mexiko abgeschoben, heute ohnehin tot wäre. Zweitens, weil schon der moritatenhafte, an Peter Weiss' Dramen erinnernde Untertitel klar macht, dass und wie sie umgekommen ist.

„Das Räderwerk der Menschenvernichtung / nach den Akten des Deutschen Reiches / exemplarisch dargestellt an der Münchner / Jüdin und Komintern-AgentinOlga Benario / die im Gestapogefängnis ein Kind gebar und / Jahre in Konzentrationslagern verbrachte / bevor sie ins Gas geschickt wurde.“ Allerdings war die Lage nicht ganz aussichtslos. Im Rest von Rechtsstaatlichkeit, der dem Naziregime eignete, lag Benarios Chance: Vielleicht hätte man sie freigelassen, wenn ihre Behauptung, sie habe Prestes in Moskau geheiratet und sei dadurch brasilianische Staatsbürgerin geworden, verifiziert worden wäre: durch ein offizielles Dokument aus der Sowjetunion zum Beispiel, eine Heiratsurkunde, rückdatiert auf das Jahr 1932. Aber dort hatte man Olga Benario offenbar längst abgeschrieben.

Robert Cohen hat die seine Protagonistin betreffenden Gestapo-Akte stark gekürzt und „bis in einzelne Sätze und Formulierungen hinein bearbeitet. Angestrebt war nicht wörtliche Treue zum Original, sondern Arbeit an Form und Sprache.“ Zweimal ließ er sich dazu hinreißen, den Unsinn der bürokratischen Floskeln durch Zuspitzung entlarven zu wollen.

Das ähnelt dem Verfahren, das der Linzer Sprachbastler Heimrad Bäcker in seiner viel gelobten Zitatencollage „nachschrift“ angewendet hat. Anders als diesem geht es Cohen jedoch nicht darum, dem Grauen einen ästhetischen Reiz abzugewinnen. Ihm gelingt es auch mit diesem Buch, eine unter Millionen Ermordeten auferstehen zu lassen: eine Frau, die als Kommunistin verfolgt und als Jüdin getötet wurde. Zwei Gründe, warum in ihrer Geburtsstadt keine Straße, kein Platz, kein kommunaler Wohnbau an sie erinnert. ■

Robert Cohen

Der Vorgang Benario

Die Gestapo-Akte 1936–1942. 188 S., geb., € 15,50 (Edition Berolina, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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