Einlieferung in dieses Zimmer

Marica Bodrožić' poetischer Roman über einen Komapatienten auf Sprachsuche.

Wie kann sich ein Mensch finden, der sich ganz vergessen und der alles verloren hat?“, fragt Marica Bodrožić in ihrem fünften Roman, „Das Wasser unserer Träume“, und erzählt von einem Mann, dessen Glaube an die Erzählbarkeit der Welt ihn in das Leben zurückführt.

Ein Mann liegt in einem Bett, stumm, nahezu blind, unbeweglich, alleine, „silberschnurgenau getrennt“ von seinem Körper und der Welt. Wir begleiten ihn, der sich erst in seinem „Empfindungstunnel zurechtfinden“ muss, beim sprachlichen Abtasten seiner Umgebung. Langsam erfahren wir, dass er nach einem Unfall im Koma liegt. „Einlieferung in dieses Zimmer“ ist der schlichte Begriff, den der Mann für den Beginn des monatelang andauernden Zustands wählt. Die Schlichtheit dieser Beschreibung ergänzt Bodrožić durch die poetische Bilderwelt, mit der er seine Umgebung erforscht und für sich bespricht. Der Mann nähert sich Menschen, Gerüchen, Geräuschen durch die Hintertür: „Wie Flügelwesen schweben die Buchstaben in meine singbaren Träume und sondieren die Himmelsrichtungen in meinem Kopf.“

Dabei zeichnet der Roman auch eine sprachliche Entwicklung von kreativer Bildlichkeit zu sprachlicher Konventionalität: Zu sich selbst spricht der Mann in Bildern eines Denkenden, der die Regeln der Sprache kennt, die Konventionen ihrer Verwendung jedoch mitunter nicht berücksichtigt: „Ich borge mir Mondlicht für die zukünftigen Antworten. Ein Stoppschild unterbricht mich, es spricht in neuen Farben.“ Wir ahnen, dass wir Gegenwart, Körper auch ganz anders denken könnten und beobachten.

Als Erinnerungsteile zurückkommen, wird nicht nur die Sprache konventioneller, sondern auch die Erinnerung konkreter. Erinnerungen an die Ehefrau, mit der er nicht mehr verbunden ist; an die Geliebte Nadushka, die er verlassen hat, obwohl sie ihm so nahe war; an den langjährigen Freund, der ihm Briefe schreibt ins Krankenhaus; an seine Jugendliebe Arjeta. Schließlich gewinnt er die Motorik zurück; die Sprechfähigkeit lässt noch auf sich warten, doch kann er die Briefe lesen, die er in den letzten Monaten erhalten hat. Er erfährt von seinem Sohn Ezra, den Nadushka ihm bisher verschwiegen hat, und dem Kind, das seine Frau mittlerweile mit einem anderen Mann hat.

Finden einer individuellen Sprache

Wie sich die Erinnerungsteile miteinander verbinden, so fügt sich auch das Personal aus Bodrožićs Romanen langsam zusammen: Den Mann im Koma haben wir vielleicht schon getroffen in „Das Gedächtnis der Libellen (2010)“. Anjeta, die Jugendliebe des im Koma liegenden Mannes, heißt darin Nadeshdas Freundin; ihren Erinnerungen an die Kindheit im ehemaligen Jugoslawien widmet sich Bodrožić in „Kirschholz und alte Gefühle“ (2012). In „Das Wasser unserer Träume“ schreibt sie über das Finden einer individuellen Sprache, die doch nicht ganz ausreicht, da man konventionalisierte Bilder und Ausdrucksformen benötigt, um Teil der Welt sein zu können.

Seine Auferstehung – ihm wird am Krankenbett aus Tolstois gleichnamigem Roman vorgelesen – inszeniert Bodrožić als sprachliche Entwicklung, die man als Gegenmodell zur Entfaltung poetischen Schreibens lesen könnte: Statt der bildlichen Verdichtung, der Suche nach individuellen Zeichensystemen, bewegt sich der Mann aus seiner individuellen Denkwelt zurück in einen konventionellen Lebenslauf, dem man vielleicht mit den konventionellen Mitteln der Sprache auch beikommen kann. ■

Marica Bodrožić

Das Wasser unserer Träume

Roman. 224 S., geb., € 22,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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