Gottes Länge und Breite

Christoph Markschies hat die leibhaftigen Erscheinungen Gottes durch die vergangenen Jahrtausende gründlich auf sich wirken lassen: „Gottes Körper“ – eine verschmitzte Kulturgeschichte der Gottesbilder.

Unglaublich, aber wahr. Es klingelt an der Tür, und draußen steht Gott, mit Vollbart und Heiligenschein. Christoph Markschies, Professor für antikes Christentum an der Berliner Humboldt-Universität, hat die leibhaftigen Erscheinungen Gottes durch die vergangenen Jahrtausende so gründlich auf sich wirken lassen, dass der Anmerkungsteil die Hälfte des Buches benötigt.

Die Idee, über den Körper Gottes nachzudenken, entstand während eines mehrjährigen Forschungsprojekts, bemerkt Markschies. Was dabei herausgekommen ist, wirkt nur auf den ersten Blick wie eine antiquarische Grille. Nach dem Einlesen wird bald deutlich, dass die Studie ein Publikum für gelehrsam kostümierten Hintersinn bedient. Die Idee eines göttlichen Körpers sei mitnichten erledigt, postuliert Markschies im Schlusswort.

Der Einsiedler Antonius (gestorben um 360 nach Christus) zum Beispiel gilt zwar nicht als Gott, aber als exemplarischer Heiliger, dessen Lebensbeschreibung tausend Jahre lang in christlichen Klöstern als Tischlesung (legenda) vorgelesen wurde und später Flaubert faszinierte. Für Markschies wird Sankt Anton zum Extremisten, der sich nur einmal im Jahr, zu Ostern, die Haare schnitt, sich und seine Körperbedeckung nie wusch, mit Wildkräutern und Wurzeln zufrieden war und in einer Grabkammer nächtigte. Zweck solcher Lebensführung (ordo vitae)war die Verwandlung des eigenen Körpers in einen engelgleichen.

Markschies hat Peter Browns „Die Keuschheit der Engel“ als Leitfaden benutzt, der die Geschichte der sogenannten Wüstenväter schildert, die im heutigen Wadi Natrun am Nil ihren Leib als Fremdkörper dressierten. Ihre Leichname wurden für damalige Religionstouristen zu Kostbarkeiten (reliquiae), mit denen sich erfolgreich handeln ließ, besonders während der Kreuzfahrten ins Heilige Land.

An der Hebron-Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem im heutigen Israel wurde das Skelett eines Entsagers entdeckt, der mit einer dicken Eisenkette gefesselt war. In antiken Selbstverständlichkeiten galt der Asket (asketes) als Sportsmann (athletes), der im Kampf gegen den eigenen Körper lag. Das Bestreben, so Markschies, einen gewöhnlichen Menschen zu vergöttlichen, galt einst nicht nur in christlichen Kreisen als erstrebenswert.

Dass Selbstquälereien auch im heutigen Indien bekannt sind, ist mühelos nachzulesen (vergleiche sadhu, baba). In Asien, wo die Anfänge des europäischen Klosterwesens anzutreffen sind, hat sich Markschies nicht umgesehen, was zu bedauern ist. Einen Ausflug zu mystischen Merkwürdigkeiten hat er gleichwohl unternommen. In mittelalterlichen jüdischen Spekulationen über die Proportionen des göttlichen Körpers ist von einem himmlischen Palast die Rede und von einem Thron, auf dem Gott Platz genommen hat, umgeben von etlichen tausend Dienstengeln. In derlei visionären Gefilden wachsen Gottes Länge und Breite ins Unermessliche, erzählt Markschies, der sich auch im Fach Judaistik einen guten Namen gemacht hat.

In der heutigen Alltagssprache, so Markschies, schwingt im Begriff Mystik die Dimension des Geheimnisvollen mit. Auszugehen sei von der sprachlichen Nähe von myein (= die Augen schließen) und myeein (= in Geheimnisse einweihen), obwohl zwischen den beiden Bezeichnungen keine etymologische Beziehung bestünde. Übrig bliebe eine eher unbestimmte Anspielung auf Esoterisches, ein Signalwort im Kontrast zu dem, was die Pfarrer von den Kanzeln verkünden, allenfalls der Wunschinhalt, für exquisite Erlebnisse offenzubleiben.

Damit steht der Alte der Tage, wie er in der Bibel genannt wird, noch lang nicht vor der Wohnungstür. Es sei denn, es handle sich um einen obdachlosen Flüchtling, für den das Wort Jesu gilt, ICH war fremd, und ihr habt mich beherbergt. Diese Leibhaftigkeit der christologischen Annäherung diskutiert Markschies im Schlusskapitel, nicht ohne Wenn und Aber, wie es seine Art ist. Er lässt einen fünfbändigen Wälzer aus der Feder von Alois Kardinal Grillmeier über Jesus von Nazareth als göttliche Person links liegen und zieht es vor, eine Spitzenaussage des heiligen Paulus zu wählen, um Nägel mit Köpfen zu machen: In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (somaticos).

Also auch mit Durst und Hunger, Schlafbedürfnis, Sexualität? Die Unschicklichkeit solcher Fragen führte dazu, den Christusleib als Trugbild (phantasma) abzuwerten, erzählt Markschies, mit seinem sicheren Gespür für Absonderliches zwischen den Zeilen der respektablen Kirchengeschichten.

So ist zu erfahren, wie ärgerlich mancher frommen Seele die Vorstellung erschien, Christus wäre mit Hoden und Penis auf die Welt gekommen beziehungsweise hätte aufs Klo gehen müssen. Zufrieden dagegen hört auch der heutige Christenmensch in den Osterevangelien, der von den Toten auferstandene Jesus wäre durch geschlossene Türen getreten. Christoph Markschies: Es gab zahlreiche Debatten vom zweiten bis ins fünfte Jahrhundert über die Frage, ob und auf welche Weise der Körper des Auferstandenen sich vom irdischen Körper Jesu unterschied.

Ein Grübler namens Valentinus aus den Kreisen der sogenannten Gnosis, deren Nachdenklichkeiten 1945 in der oberägyptischen Stadt Nag Hammadi ausgegraben wurden, konnte nicht glauben, dass Christus wie unsereiner gegessen und getrunken habe, auch nicht vor seiner Auferstehung, sondern irgendwie spirituell, was Darmentleerung ausschloss. Mit einem Gespenst sei der wie Lazarus tot geglaubte Herr Jesus mit Sicherheit nicht zu verwechseln gewesen, berichtet das Lukasevangelium. Du fragst, schrieb der Oberlehrer der Catholica, Aurelius Augustinus, ob der Leib des Herrn auch jetzt noch Knochen und Blut besitze? Festzuhalten sei, dass er sich so im Himmel befinde wie auf Erden, ehe er den Augen der Apostel entzogen wurde, anlässlich seiner Himmelfahrt.

Um aus diesem Irrgarten herauszufinden, hat sich Markschies im Schlusswort zu einer Ehrenrettung mythologischer Literatur bequemt, mit Einschränkungen freilich: Es gilt also beides, der Blick auf die Vorstellungen von Gottes Körperlichkeit zeigt die Wahrheit des Mythos, aber auch die Notwendigkeit der Entmythologisierung.

Als offen verschmitzt, zum Beispiel in der Weise des Dada, darf sich ein akademischer Lehrer nicht outen. Schade. Nicht religiöses Sinnen und Trachten befindet sich in der Krise, sondern die Humorlosigkeit der professoralen Bibelkritik. Ein entmythologisierter Gott zieht es vor, auf sich warten zu lassen. ■

Christoph Markschies
Gottes Körper
Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike. 900 S., 15 Abb., Ln., € 49,40 (C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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