Ein Kirchhoff ohne Sex!

Immerhin: Frauenhaargeruch. Die Novelle „Widerfahrnis“.

Bisher hat Bodo Kirchhoff immer Hirnerotik vom Feinsten geliefert,einmal Anreizendes mit Distanz und dann pure Fleischeslust, so gekonnt, wie man es nur mit deutschsprachigen Nomen ausdrücken kann. Jetzt liefert er „Eine Novelle“, die zwischen dem 20. und 24. April in der Gegenwart spielt und als exemplarisches Gattungsbeispiel dienen könnte. Offensichtlich bietet Kirchhoff nicht von ungefähr am Gardasee Schreibseminare an. Überhaupt hat auch dieses Buch etwas (Auto-)Biografisches.

Julius Reither, bis vor Kurzem Verleger in einer Großstadt, mit der selbstverständlich keine andere als Frankfurt am Main gemeint ist, lebt nun in einem ruhigen Tal am Alpenrand. In der dortigen Bibliothek der Apartmentsiedlung, in die er sich zurückgezogen hat, findet er ein Buch ohne Titel. Auf dem Umschlag steht nur der Name der Autorin, die eines Abends an seiner Tür klingelt und unverhohlen über beide feststellt: „Zwei, die pleitegemacht haben, Sie mit einem Verlag, Reither, ich mit einem Hutladen.“ Worauf er Leonie Palm vorschlägt, „doch hereinzukommen und eine zu rauchen“. Aus einer Zigarette wird eine ganze Geschichte, eine exemplarische Novelle.

Noch in derselben Nacht beginnt sein „Widerfahrnis“ und führt ihn in drei Tagen vom Weissachtal über Südtirol bis an das Meer in Sizilien. Die ehemalige Hutladenbesitzerin nimmt ihn sozusagen an der Hand, und die beiden tauschen sich umgehend über ihre Berufserfahrungen aus. Sie sei an „einem immer kopfloseren Publikum gescheitert“, an der Zeit, in der es immer mehr an „Hutgesichtern“ fehlt, wogegen er den Verlag „dichtgemacht“ hat, weil „es allmählich mehr Schreibende als Lesende“ gibt.

Grammatik beugt sich dem Leben

Auf die große Liebe sind Julius Reither und Leonie Palm eigentlich nicht mehr vorbereitet und dennoch war es ihnen, „als würden die Blicke ineinanderlaufen wie Farben auf einem Aquarell“. Als am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, wird es nur von ein paar fremden Menschen, den Zeitläuften gemäß Flüchtlingen, nachhaltig gestört.

Geschickt kommentiert Kirchhoff in seiner Novelle als ehemaliger Verleger die Schreibweise, den Erzählfluss und die Pointen, die vorhanden sind oder nicht vorkommen, aber dem Manuskript nicht geschadet hätten, wie er anmerkt. Er lichtet mit seinen Kommentaren das „Dickicht der Sprache“, die sich im Frauenhaargeruch verheddert, wenn „sie sich das Haar aus der Stirn strich, wie um ihm die Stirn zu bieten“. Daneben macht er auf Hutexperte und expliziert die verschiedensten Arten von Kopfbedeckungen. Im Eigentlichen ist diese Novelle ein lupenreines Roadmovie. Sie spielt überwiegend in Leonie Palms Cabrio, das von Reither, den der Autor als veritablen Feigling darstellt, gelenkt wird.

Störend sind eigentlich nur zwei Nebensächlichkeiten. Einerseits der konsequente Gebrauch des altväterischen Dativ-e, andererseits das reinweg misslungene Umschlagmotiv. Was aber der großen Kunst des Schriftstellers Bodo Kirchhoff nicht wirklich Abbruch tut, erkennt er doch, dass sich „die Grammatik dem Leben beugen“ muss, das ja „keine Neuerscheinung im Reither-Verlag“ ist. Kirchhoffs Neuerscheinung steht heuer, wieübrigens auch die Romane von EvaSchmidt und Reinhard Kaiser-Mühlecker, zu Recht auf der Shortlist für den mit 25.000 Euro hoch dotierten Deutschen Buchpreis, der jährlich Mitte Oktober verliehen wird. ■

Bodo Kirchhoff

Widerfahrnis

Eine Novelle. 224 S., geb., € 21,60 (Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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