Der Günstling eines Systems

Paul Lendvai über den Wandel Viktor Orbáns vom Liberalen zum National-Konservativen und über die Abkapselung Ungarns.

Der völkisch-nationale Gedanke, die populistische Politik stehen im scharfen Gegensatz zum Liberalismus. Die Liberalen fordern Freiheit für das Volk, sodass es Unternehmen betreiben und wählen kann. Die Populisten dagegen wollen das Volk höher stellen. Die Fidesz soll eine völlig offene, liberale Volkspartei ohne Altersgrenzen werden.“ Also sprach Viktor Orbán am 7. Februar 1992. Drei Jahre zuvor war der junge Mann mit einer mutigen, gegen den Sowjetimperialismus gerichteten Rede vor 250.000 Menschen auf dem Budapester Heldenplatz schlagartig eine nationale Berühmtheit geworden.

Ein gutes Vierteljahrhundert später ist alles völlig anders: Statt den Liberalismus hochzuhalten, preist Orbán, inzwischen bereits als Regierungschef mit zehnjähriger Amtserfahrung, sein Modell der „Illiberalen Demokratie“ an; statt Offenheit will er sein Land nach außen hin abkapseln; statt sich gegen Moskaus Neoimperialismus zu stellen, ist Orbán mächtig stolz auf seine Männerfreundschaft mit dem russischen Autokraten Wladimir Putin. Diesen dramatischen politischen Wandel vom Jungliberalen zum Liberalenhasser zeichnet der Journalist Paul Lendvai in seinem inzwischen 18. Buch – seinem fünften, das sich dezidiert seinem Geburtsland Ungarn widmet – nach.

Erneut zeigt sich dabei, wie ungeheuer belesen Lendvai ist. Es gibt wohl keine politische Situation, zu der Lendvai nicht ein passendes Zitat von irgendeinem Denker ausgraben kann. Aber klar ist auch: Lendvai ist ganz und gar kein Fan des Viktor Orbán, und er macht in diesem Buch kein Hehl daraus, dass er ihn für eine politische Gefahr nicht nur für Ungarn, sondern für die gesamte EU hält. So ein ungebändigter Ehrgeizling Orbán auch sein mag: Ob er in seiner Selbstgefälligkeit es wirklich anstrebt, „Angela Merkel als Europas Führungspersönlichkeit abzulösen“? Der Regierungschef eines ziemlich korruptionsverseuchten, wirtschaftlich nicht gerade avantgardistisch dastehenden Zehn-Millionen-Landes als führender Politiker einer halben Milliarde Europäer? Glaubt Orbán das denn wirklich?

Wiederholt nennt Lendvai Orbán ein außergewöhnliches politisches Talent, „mit einem geradezu unheimlichen Fingerspitzengefühl für die Mobilisierung der nationalen Grundstimmung der Ungarn“. An anderer Stelle ist von einer „hochbegabten und komplexen Persönlichkeit“ die Rede. Der Aufsteiger aus Felcsút sei „offen, aufrichtig und sympathisch“, zitiert Lendvai auch Orbáns früheren Mitstreiter Gábor Fodor. Aber Fodor klagte auch über Orbáns Herrschsucht, Intoleranz und dessen prinzipienlose Berechnung. Laut Lendvai ist er auch kein Teamspieler, dafür aber ein ziemlicher Macho, wie der äußerst mickrige Anteil an Frauen in seiner Partei, im Parlament und in der Regierung zeigen.

Dass Orbán ein kühl berechnender Machtpolitiker ist, zeigt, wie gut es ihm seit 2010 gelungen ist, den ungarischen Staat, seine Institutionen und die Medienlandschaft so nach seinen Vorstellungen umzubauen, dass ein Machtwechsel sehr unwahrscheinlich erscheint. Wenn Orbán und seinem Machtsystem Gefahr droht, dann wohl durch wachsende Wut der Bevölkerung auf die Korruption, die sich immer ärger ausbreitet. Ein Günstlingssystem, das schon feudalistische Züge annimmt, wuchert rund um Orbán. Das zu beschreiben, gelingt Lendvai gut. Zu wenig befasst er sich hingegen mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in der ungarischen Gesellschaft. Auch diese könnte noch zum Sprengsatz für das Orbán-System werden.

Fragt sich noch, wie Orbán im Inneren relativ ungehindert ein derartiges Herrschaftssystem nach seinem Geschmack auf- und ausbauen konnte. Wiederholt verweist Lendvai auf die unfähige, zerstrittene linke Opposition hin, die rechtsradikale Jobbik-Partei stellt da für Orbáns Allmachtsträume vermutlich die größere Herausforderung dar. Vor allem im Vergleich zu dem, was derzeit in Polen geschieht, zeigt sich, dass in Ungarn eine aktive Zivilgesellschaft fehlt. Ob das mit dem latenten Gefühl der Ungarn, ausgeliefert zu sein, ihrem ständigen Schwanken zwischen Öffnung und Abkapselung, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein und dem magyarischen Lebenspessimismus zusammenhängt, von dem Lendvai schreibt? 1956, vor 60 Jahren zeigte sich jedenfalls, dass auch die Ungarn imstande sind, aus ihrer Lethargie zu erwachen. ■


Der Autor stellt sein Buch am 12. Oktober
um 19 Uhr in der Wiener Buchhandlung Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, vor.

Paul Lendvai

Orbáns Ungarn

240 S., geb., € 24 (Kremayr & Scheriau

Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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