Taube in gelber Säure

„Bis zum Schluss deutete absolut nichts darauf hin, dass alles in Ordnung sein würde. Die schlechten Vorzeichen waren allgegenwärtig.“ Aus dem Roman „Superheldinnen“.

Erstens. Etwas Unerwartetes war passiert, und unsere Leben warendanach nicht mehr dieselben. Der entscheidende Tag war ein Samstag im Sette Fontane. Heute weiß ich, was am Ende geschehen ist, und kann jetzt einiges aus unserer Vergangenheit erklären und unsere Gewohnheiten beschreiben. Ich spreche über Städte und darüber, was man in ihnen sehen konnte, im Jahr, als Rabija starb, das rotzige Kind auftauchte und ich den Sommer in Belgrad verbrachte, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Ich spreche auch darüber, wie ich mich zwei Jahre später mit meinen Freundinnen in Wien traf, in der Stadt unserer Wahl, um unser eingespieltes Samstagsritual zu vollführen. Das, was ich jetzt weiß, aber damals nicht wissen konnte, ist, dass wir alle drei heimliche Motive hatten und dass wir, jede auf ihre Weise, im Grunde vor allem im Sinn hatten, dem depressiven Zustand, in dem wir uns schon seit Jahren befanden, ein Ende zu bereiten.

Jede von uns hatte bis zum entscheidenden Tag zumindest einmal im Leben das Land gewechselt und die Konsequenzen dieser Entscheidung getragen. Die relative Armut war unser kleiner Fluch. In Übereinstimmung mit der üblichen Rollenverteilung im Freundschaftsdreieck und den drei einzig vorhandenen Möglichkeiten, mit Problemen fertig zu werden (sterben, Aufenthaltsort wechselnoder etwas verändern), verlangte jede von uns nach einer eigenen Intervention.


Zweitens.Bis zum Schluss deutete absolut nichts darauf hin, dass alles in Ordnung sein würde. Die schlechten Vorzeichen waren allgegenwärtig. Auf dem Weg zum Siebenbrunnenplatz stieß ich an der Treppe auf einen Kotzfleck mit einem Durchmesser von einem halben Meter und dachte, dass nun die Zeit für Veränderungen gekommen war. Zumal mitten in der gelben Säure eine Taube stand und aß. Da die Masse flüssig war, warf die Taube von Zeit zu Zeit den Kopf nach hinten, um besser zu schlucken, und von ihrem Gesicht ließ sich ablesen, dass sie glücklich war, während sich von meinem Gesicht ablesen ließ, dass ich nicht glücklich war. Dabei fiel mir ein, dass uns die Städte immer wieder kauten und ausspuckten, und wir zogen unermüdlichum, vergrößerten unsere Reichweite.

Es fiel mir auch ein, dass die Tauben auf die gleiche Weise herumflogen, auf der Suche nach schmutzigen Terrassen mit vollen Mistkübeln, von denen niemand sie mit einem Besen verjagen würde, darüber hinaus hegten sie sogar die Hoffnung, dass ein einsamer und kranker Mensch im Ruhestand ihnen erlauben würde, ein Nest unter seinem Bett zu bauen. Die Menschen vergifteten die Vögel, jagten sie mit Nadeln in die Flucht und bestraften all jene, die Tauben fütterten. Immer wieder passierte es mir, dass vor mir aus irgendeinem Loch eine total kranke Taube herausgekrochen kam. Wie dem auch sei, als ich die widerliche Szene auf der Treppe beobachtete und mir sagte, dass die Zeit reif war für Veränderungen, dachte ich an ganz bestimmte Veränderungen. An diesem Samstag hatten wir, so wie jeden Samstag in den zwei Jahren davor, ein Treffen im Café Sette Fontane am Siebenbrunnenplatz vereinbart. Es war März in Wien, und aufgrund des Sonnenmangels waren unsere Gesichter weiß wie die Wand. Die Depressionen rissen uns in Stücke, zerrten an uns und nagelten uns am Boden fest. Wir waren zu nichts zu gebrauchen.

Wir begannen um etwa zehn Uhr morgens, wobei Direktorka immer fünf Minuten und Mascha zehn Minuten zu spät kam. Die fünf Minuten Verspätung waren bei Direktorka einer Machtdemonstration innerhalb der Gruppe geschuldet, während Maschas zehn Minuten nichts anderes bedeuteten als ihren aufrichtigen Versuch, rechtzeitig anzukommen. An jenem Samstag legte jede von uns ihren Stapel von Fotos, Zeitungsausschnitten und Notizen auf den Tisch. Es konnte losgehen.
Drittens.
Ich hatte schon immer den Eindruck, dass unsere Kräfte auf eine gewisse Weise dark waren. Ich konnte mir selbst die Frage nicht beantworten, ob der Pessimismus eine Folge unserer Kräfte war oder ob, im Gegenteil, unsere Kräfte in den finstersten, von Teer überzogenen Untiefen unserer pessimistischen Seelen entstanden waren, als ein Geschenk des Schicksals. Außer diesem urtümlichen Pessimismus, diesem Gefühl, das dir sagt, dass nichts jemals gut wird, hatten wir drei noch etwas gemeinsam, nämlich ein Interesse für verfehlte Biografien und für das Scheitern. Direktorka hatten wir auserwählt, als wir eine Dritte in der Gruppe gebraucht hatten, wegen des kosmischen Gleichgewichts und der Akkumulation unserer Macht. Durch ihre Empathie stach sie aus allen anderen Kandidaten heraus. In Gesprächen mit ihr bemerkten wir, dass sie in der Lage war, in sehr kurzer Zeit und mit einem Minimum an Informationen abzuschätzen, was die Menschen in ihrer näheren Umgebung quälte. Sie wusste, dass sie Zahnschmerzen hatten oder dass sie dachten, ihr Oberteil stünde ihnen nicht gut, oder dass ihre Katze gestorben oder sie selbst gekränkt oder krank waren. Sie war unfehlbar, wenn auch eine Autodidaktin.

Ich weiß noch, wie wir alles vom Tisch nahmen, damit der Kellner Platz hatte, drei ovale Tabletts aus Blech mit drei Kaffees und drei großen Gläsern Wasser abzusetzen. Er brachte uns jeweils ein großes Wasser, weil er unsere Gewohnheiten schon kannte. Er war wahrscheinlich der Meinung, dass wir nicht viel verdienten, und er hatte recht. Wir waren mit wertlosen Fähigkeiten ausgestattet, und deshalb brachte uns nichts, das wir tun wollten und konnten, genug Geld ein. Mascha begann. Sie holte ihren Vorschlag auf einem Blatt Papier aus einer Klarsichthülle heraus und gab ihn uns zu lesen. Ich musste verkehrt herum lesen, weil ich ungünstig saß: „Heute Abend denken wir an Alfred, der 54 Jahre alt ist und vor Kurzem seine Arbeit verloren hat. Alfred war mehr als 20 Jahre bei einem Arbeitgeber angestellt, und jetzt hat er kaum Chancen, eine neue Arbeit zu finden. Richten wir unsere Gedanken auf ihn, am Mittwoch um 18 Uhr, und helfen wir ihm, sich zu sammeln und weiterzugehen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)

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