Der andere Kick

Von der Bobo-Gartenlaube ganz weit entfernt: Philipp Winkler begibt sich in seinem Debütroman „Hool“ in die Übergangszone von Stadt zu Land, wo die Subkultur gewaltbereiter Fußballfans ihre Kämpfer und Mitläufer findet.

König Fußball hat Spuren in der Literatur hinterlassen. Das reicht vom Jugendbuch (Karl Bruckner: „Die Spatzenelf“) über Krimis (Manuel Vázquez Montalbán: „Carvalho und der tote Mittelstürmer“,Philip Kerr: „Wintertransfer“ et cetera) und Lobhudel-Lyrik (Friedrich Torberg: „MatthiasSindelar“) bis zu Elias Canettis beeindruckendem Großessay „Masse und Macht“. Dessen Kenntnis, zu dem der Autor teilweise vom Fangeschrei des SK Rapid angeregt worden ist, ist kein Nachteil beim Lesen von „Hool“, dem Debütroman des 1986 in Niedersachsen geborenen Philipp Winkler, der die dunkle Seite des beliebten Sports beschreibt: die gewaltbereite Hooliganszene.

Diese breitete sich in den 1980er-Jahren ausgehend von England europaweit aus und sorgte für Wirbel in den Stadien. Wegen der zunehmenden Überwachung durch Polizei und Ordnerkräfte verlegten die Hools ihre streng ritualisierten Kämpfe aus den Arenen in entlegene Gegenden. Ursprünglich proletarisch geprägt, finden sich derzeit fast alle sozialen Gruppen in der Szene. Man braucht nur einen Buchstaben beim Titel austauschen, und schon erhält man „Howl“ – den Wut- und Klageschrei von Allen Ginsberg über die Beat Generation.

Zwar sieht Heiko Kolbe, Ich-Erzähler vonWinklers Roman, nicht die besten Köpfeseiner Generation „zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt, hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerstraßen schleppen auf der Suche nach einer wütenden Spritze“. Dazu fehlt ihm die kritische Distanz, und es sind auch nicht die besten Köpfe der Generation. Drogen, Jazzmusik und Wahnsinn bei Ginsberg tauchen hier als Alkohol und Koks, Schlachtgesänge auf den religiös verehrten Verein und blindwütige Aggression auf. Ausgemergelt ist kein Akteur, sondern muskelbepackt aus dem Fitnessstudio. Sie alle leiden unter „lifelessness“, die Bob Dylan – ja, wir gratulieren zum Nobelpreis! – in „Desolation Row“ der Ophelia im „Hamlet“ zuschreibt, und sind stets auf der Suche nach dem Kick der Gewalt.

„Ich wärme meinen Zahnschutz in der Hand an. Wende ihn mit den Fingern und presse ihn etwas zusammen. So mache ich es vor jedem Kampf.“ Schon die ersten drei knappen Sätze führen in die Mitte des Geschehens. Heiko ist Fan von Hannover 96 – der Verein sah schon bessere Zeiten – und mit gleichaltrigen Gefährten und Onkel Axel, alle im roten T-Shirt, auf dem Weg zum „Match“ mit den Kölner Hooligans. Und da ist schon das Gefühl, „als würde im Bauch irgendwas zu schweben beginnen. Als ob derMagen mit Helium gefüllt wäre und von unten gegen die Lungenflügel drückt.“

Der Gegner ist bereits in weißen T-Shirts da, 15 Mann wie ausgemacht. Auch die Kamera ist da – der Kampf soll ja im Internet landen. Noch dazu, wenn man das „Match“ gewinnt: Hannovers Ehre wurde verteidigt. Sie taucht sicher nicht in einem TV-Werbespot für ein schmuckes Eigenheim auf, diese Familie Kolbe. Vater Hans – ein Alkoholiker, den die Frau verlassen hat – lebt mit der thailändischen Helferin Mie in seinem Haus. Nun wurde ein Reha-Platz für ihn gefunden, von Heikos Schwester Manuela, die als Lehrerin den sozialen Aufstieg geschafft hat. Heiko solle sich doch in der Zeit, in der Hans auf Entzug ist, um dessen Tauben kümmern. Unwillig stimmt Heiko zu und begibt sich zu seinem Job als Gehilfe in Onkel Axels Wotan Boxing Gym, in dem neben körperlicher Ertüchtigung auch krumme Geschäfte möglich sind. Dann der Exschlachter Arnim, auf dessen Hof Heiko gratis wohnen darf, wenn er sich um Arnims kleinen Zoo kümmert: die zwei Kampfhunde Poborsky und Bigfoot und den Bartgeier Siegfried, der in einem finsteren Zimmer sein Dasein fristet. Eine große und tiefe Grube für einen erwarteten Neuzugang muss geschaufelt werden: Arnim hat sich einen illegal ins Land zu schaffenden Tiger in den Kopf gesetzt.

Vergessen wir Verwandtschaft und Erwachsenenwelt, denn für den über 20 Jahre alten Schul- und Berufsversager Heiko ist die Peergroup der Hool-Freunde wichtiger. Ulf wäre da etwa zu nennen, der sich wegen Frau und Kind mit dem Aussteigen aus der Szene beschäftigt. Oder Kai, der bei einem „Auswärtsmatch“ so verprügelt wird, dass er Wochen im Spital verbringen muss. Oder Jojo, der eine Jugendmannschaft trainiert.

Nicht zu vergessen: Yvonne. Heiko lernte sie bei seinem Zivildienst in einem Spital kennen, in dem sie eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte. Dass sie dabei Zugriff auf sonst nicht erhältliche Substanzen hatte, steigerte ihre Attraktivität noch erheblich. Dass sie ihn verlassen hat, noch dazu vielleicht wegen eines feindlichen Hools, kann Heiko nicht verwinden. Da ist ein Rachefeldzug angesagt – zum Ärger von Onkel Axel. Dieser will zwar Heiko zu seinem Nachfolger als Boss der Hooliganszene in Hannover aufbauen, ist aber ungehalten darüber, dass Privates bei den Schlägereien eine Rolle spielt. Er hat ja Prinzipien!

Bei diesem personellen Tableau ist Action zu erwarten, und Philipp Winkler – er erhielt im Vorjahr für Auszüge aus diesem Roman den Retzhof-Preis für junge Literatur des Literaturhauses Graz – lässt es daran wahrlich nicht mangeln. Sein Protagonist Heiko trägt eine große Wut auf die Welt mit sich – der er auch freien Lauf lässt – und ist laut Eigenaussage unfähig, seine Gefühle zu artikulieren, was bei einem Ich-Erzähler doch recht seltsam scheinen mag. Dennoch gibt es in „Hool“ berührende Szenen inmitten des gewaltsamen Geschehens.

Stichwort: Robert Enke. Der populäre Tormann von Hannover 96 und zeitweilige deutsche Nationalspieler warf sich am10. November 2009 wegen Depressionen vor einen Zug, sein Selbstmord entfachte viele Diskussionen über unterdrückte psychische Probleme und übersteigertes Konkurrenzdenken beim Fußball. Die Enke gewidmete Trauerfeier, an der Zehntausende teilgenommen haben und die live im TV übertragen wurde, erweckt bei unseren Hools über mehrere Seiten eine große Explosion der Gefühle. Stark auch die Fahrt Heikos nach Bremen mit dem immer kränker werdenden Vater, der aus der Suchtklinik ausgebüxt ist, um dessen Wunsch zu erfüllen: noch einmal ein Auswärtsspiel seiner 96er gegen Werder sehen zu dürfen. Da schimmert kurz Familienglück durch die Tristesse.

Winkler ist mit der beschriebenen Subkultur so sehr vertraut, dass zumindest seine Nähe zu Hooligans vermutet werden darf. Ohne Umschweife treibt er den von Gewalt aller Art geprägten Plot dem bitteren Ende zu. Kurze, sprachlich aufbrausende Sätze mit zum Teil retardierter Aussage sowie regionale oder generationsspezifische Slangausdrücke sorgen für Verdichtung der Authentizität: Der „Perso“ ist leicht als Personalausweis zu erkennen, „Natzen“ verdichtet Nazi-Glatzen. „Exen“ heißt, ein alkoholisches Getränk möglichst schnell und ganz auszutrinken; und dass mit „Zichten“ unsere guten alten Tschicks gemeint sind, erschließt sich leicht aus dem Zusammenhang. ■

Philipp Winkler

Hool

Roman. 310 S., geb., € 20,60 (Aufbau
Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)

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