„Ich werde zum Betrieb“

„Der Betrachter“: Imre Kertész' Chronik umfasst das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Sie enthält Reflexionen, die sowohl für das Verständnis der Rezeption seines Werkes als auch der Entwicklung in Ungarn seit der Wende wichtig sind.

Chronik als Selbstprüfung“ steht als erster Satz in den posthum veröffentlichten Aufzeichnungen der Jahre 1991 bis 2001 des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész, und nichts könnte den Schreibimpuls hinter diesen Notaten besser auf den Punkt bringen. Sie sind vibrierende Kondensate eines solitären Lebens, und ihre Lektüre ist an allen Ecken und Enden an- und aufregend. „Die Welt dröhnt von Erklärungen“, und Kertész ist ein zu großer Schriftsteller, um in Versuchung zu geraten, ihnen eine weitere hinzuzufügen. Schon gar nicht über sich selbst und das eigene Leben (die triviale Falle vieler Tagebücher und Autobiografien). Kertész schreibt aus der Haltung, die ein Eintrag des Jahres 2000 in Worte fasst: „Was für ein Geheimnis ist das Leben eines Menschen, vor allem für ihn selbst.“

Natürlich sind diese Aufzeichnungen einePflichtlektüre für alle Kertész-Leser. „Ich werde zum Betrieb“, steht schon auf der ersten Seite. Im Jahrzehnt vor dem Nobelpreis reflektiert Kertész immer wieder seine paradoxe Situation: Sein Werk verdankt sich der Einsamkeit, dem Ausgeschlossensein aus dem Literaturbetrieb und dem Unglück. Doch jetzt wird er international bekannt, ist vor allem in den deutschsprachigen Medien präsent und dazu auch noch glücklich. Schon in „Ich – ein anderer“ werfen Splitter von Glück die Frage auf, „wo ich fortan meinekreativen Energien herholen soll“.

Das Glück kommt aus der gegenseitigen Liebesbeziehung mit seiner zweiten Frau, Magda (die ihm vor Kurzem in den Tod gefolgt ist). Bedrückend werden die immer wieder aufblitzenden Reflexionen dieses Glücks nur dann, wenn man aus den 2013 veröffentlichten Tagebüchern, „Letzte Einkehr“, weiß, welche Schatten sich auf diese Liebe gelegt haben. Kertész reflektiert keineswegs nur ein privates Glück, das man ins autobiografische Eck stellen könnte, sondern eine für ihn neue Form der Weltwahrnehmung und einen anderen Grundton seines Schreibens. Beides hängt nicht ausschließlich, aber doch primär mit seinen beiden Ehen zusammen. Präzise, wie Kertész als „Betrachter“ (ja, der Buchtitel trifft es genau) auch seiner selbst nun einmal ist, wischt er die tiefe Trauer beim Tod seiner ersten Frau, Albina, nicht mit der aufkeimenden Liebe zu Magda weg, sondern geht ihr ausführlich nach und bringtdamit auch sein Leben vor 2001 in diesen Text ein.

So eröffnet „Der Betrachter“ auch Perspektiven, die unerlässlich für die Interpretation des Werkes von Imre Kertész sind. Nicht nur für das Verständnis der Aufzeichnungen von 1961 bis 1991, die unter dem Titel „Galeerentagebuch“ berühmt geworden sind, sondern vor allem auch für den letzten Baustein seiner Tetralogie, den Roman „Liquidation“. Und reflektiert man die Interpretationen seines zentralen Werkes „Roman eines Schicksallosen“, so findet man in den Aufzeichnungen viele Einwände dagegen. Vor allem diesen: „Das Buch ist Weltinterpretation und kein KZ-Roman. Diejenigen, die ,Härte‘ vermissen, ,das Glück‘ beanstanden, wollen einfach das Bewusstsein abwehren, dass wir auch heute noch nach denselben Gesetzen leben, die die KZ möglich gemacht haben.“ Der zweite wichtige Punkt ist, dass der Roman nicht nur aus der KZ-Erfahrung kommt, „dass der Roman eines Schicksallosen ein Roman der Kádár-Ära, des Kádár-Regimes ist. Die nationale Seinsform der Kollaboration. Die geschlossene Logik des Überlebenszwangs.“

Der Zeitraum der Aufzeichnungen des „Betrachters“ umfasst das letzte Jahrzehnt, bevor Imre Kertész 2001 nach Berlin übersiedelt ist (von wo er erst 2012 aufgrund seiner schweren Parkinson-Erkrankung nach Budapest zurückgekehrt ist). So ist das Buch von zahlreichen Reflexionen über Ungarn durchzogen, die für das Verständnis der Rezeption des Werkes von Kertész und der Entwicklungen in Ungarn seit der Wende 1989 wichtig sind. „Und wenn die ungarische Kultur bald gar nicht mehr Teil der westlichen sein will?“ Diese von Kertész bereits 1993 gestellte Frage liest sich heute wie eine Vorahnung der Absage der „liberalen Demokratie“ durch Premier Viktor Orbán (die seine konservativen Parteifreunde in Österreich und anderswo nicht zu stören scheint). Und die bittere Diagnose aus dem Jahr 2000 erwies sich seither auf schmerzliche Weise als zunehmend wahrer: „In diesem Operettenland, inmitten von Pseudokrone, Pseudochristentum und verlogenem nationalen Ruhm, ist nichts wirklich außer Armut und Hass und nichts wahr außer der Lüge.“

Doch „Der Betrachter“ ist bei Weitem nicht nur wertvolles „Material“, um Kertész, sein Werk und seine Lebensumstände zu verstehen. Wirklich bedeutend ist es, weil es ihn (wie seine Essays) als autonomen Denker präsentiert, der nicht neben, sondern bis in die Strukturen hinein in seinem Werk reflektiert. Und Kertész denkt eben nicht (wie etwa Hegel, dessen totalisierende Geschichtsbetrachtung er ablehnt) von einem archimedischen Punkt her, sondern umkreist immer wieder die Aporien des Lebens und der Welt: „Die Welt nicht zu verstehen, nur weil sie ungreifbar ist, ist Dilettantismus. Wir verstehen die Welt deshalb nicht, weil das nicht unsere Aufgabe auf Erden ist.“

Von Anfang an sind diese Aufzeichnungen von Fragen durchzogen, die für gewöhnlich in das religiöse Eck entsorgt werden. Kertész diagnostiziert: „Die Welt als Gegenstand der Andacht: diese emotionale, nein: kulturelle Einstellung ist längst vorbei.“ Und er geht den Transformationen des „Mystischen“ nach, wenn er Wittgenstein (den er übersetzt hat) und Kafka als „mystisch“ qualifiziert. Doch im Gegensatz zu den „welterfüllten, andächtigen“ Mystikern, etwa des Spätmittelalters, bedeutet mystisch sein heute: „dass man heimatlos ist in der Welt“. In diesem Sinn darf man auch Kertész selbst als mystisch verstehen. Gegen jede etablierte Religion oder gar Kirche, aber auch gegen flächendeckende säkulare Welterklärungen will er die offenen, unlösbaren Fragen offenhalten: „Wir müssen nicht mit jedem Problem ,fertigwerden‘; viel moralischer wäre es, wir ließen die unlösbaren Probleme ungelöst und die brennenden Fragen in uns brennen, pochen.“

Imre Kertész zu lesen ist immer wieder ein denkerisches und emotionales Abenteuer, das einen zu den pochenden Fragen des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwart, aber auch zu den Voraussetzungen der eigenen Weltwahrnehmung führt. Mit „Der Betrachter“ liegt wohl das letzte substanzielle Werk dieses Ausnahmeschriftstellers vor, der an der Auswahl seiner Aufzeichnungen gearbeitet hat, solange er es noch vermochte. Zusammen mit dem „Galeerentagebuch“ und „Letzte Einkehr“ vervollständigen sie ein Tagebuchprojekt, das von 1961 bis 2009 reicht – fast ein halbes Jahrhundert. Es zählt zu den herausragenden Realisierungen dieses Genres und wird ebenso bleiben wie die Romane von Imre Kertész. ■

Imre Kertész

Der Betrachter

Aufzeichnungen 1991–2001. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. 256 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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