Sex nur bis zum sechsten Kind

Neues über Freud? Peter-André Alt verspricht in seiner Biografie unveröffentlichtes Material. Entscheidender ist, dass ihm die bisher präziseste Lebensbeschreibung von Freud gelingt.

Die Geschichte vom Leben des Sigmund Freud scheint nach zahlreichen Biografien auserzählt, auch Einführungen in sein Denken existieren im Überfluss. Durch diese Menge steht Peter-André Alts neue Biografie unter einem Rechtfertigungszwang, zumal sie mehr als 1000 Seiten umfasst. Hat man das nicht schon alles gelesen, etwa bei Peter Gay mit dem die potenzielle Konkurrenz niederschmetternden Titel „Eine Biografie für unsere Zeit“? Aber gerade dieser Untertitel liefert eine erste Rechtfertigung: Jede Generation erzählt sich die wichtigen Geschichten rund um die Helden unserer Kultur neu; Biografien gehören zur Mentalitätsgeschichte einer Epoche und Gays „Zeit“ liegt nahezu 30 Jahre zurück.

Freud hat die Aufforderung, eine Autobiografie zu verfassen, mit dem Argument zurückgewiesen, sein Leben sei „zu inhaltslos“ verlaufen, überdies sei die biografische Wahrheit ohnedies unfassbar. Auch Alt nennt „Arbeit – Praxis – Forschung – Lehre“ als Lebensinhalt; das ignoriert allerdings die damit verbundenen gelegentlich dramatischen Konflikte unter den Adepten seiner Lehre und in der Analyse selbst. Der Klappentext verspricht zu Recht „unpubliziertes Material“, die Menge hält sich allerdings in Grenzen, und die Relevanz ist begrenzt. Empfehlenswert wird das Buch aus einem anderen Grund: Ohne Alts Vorgänger der Nachlässigkeit zu bezichtigen – das ist wohl die präziseste Freud-Biografie, die bisher erschienen ist. Manche Publikationen zu Leben und Lehre Freuds gehen ja von zum Schlagwort gewordenen Begriffen wie dem Unbewussten, der Übertragung, der Fehlleistung et cetera aus und kontextualisieren ihn mit der Lehre und dem Stellenwert im Leben Freuds. So wird das, was ja auch zum Selbstbild Freuds gehörte, sein „Moses-Komplex“, sein heldisches Entdeckertum, zum Ausgangspunkt der biografischen Darstellung.

Alt ist ein durchaus loyaler Biograf, doch seine Tendenz ist eindeutig „postheroisch“. Er stellt einen zunächst ratlosen Freud, der gleichzeitig mit einem unklaren Sendungsbewusstsein und einer ebenso unhinterfragten Systematisierungslust gesegnet oder geschlagen war, in Situationen, an denen er zunächst scheitert. Dass es über lange Zeit nicht klug war, den Dr. Freud zu konsultieren, weil jener klinisch indolent war und sein Handwerkszeug nicht wirklich beherrschte, wurde ja oft unter dem Etikett des „Suchens“ verdeckt – tatsächlich taumelte er lange medizinisch und wirtschaftlich am Rand des Abgrundes. Auch Freuds Kokaingenuss wird oft nur nebenbei erwähnt und erhält hier die ihm zustehende Bedeutung.

Viele biografische Darstellungen behandeln Freuds persönlichen sexuellen Asketismus recht beiläufig und ignorieren die existenzielle Dimension einer solchen Entscheidung. Dass er sozusagen jungfräulich in die Ehe gegangen sei, ist quellenmäßig zwar nicht so gut belegt, wie Alt das sieht. Dass das Ehepaar Freud nach dem sechsten Kind den Verkehr einstellte, ist allerdings belegt. Es ist merkwürdig, dass der Denker, der sich zu vielen Varianten der Sexualität geäußert hat und in vielen alltäglichen Handlungen die unmittelbare Spur des Triebes sah, all das nur aus den Erzählungen der Patienten und den Fallgeschichten der Kollegen kannte. Man denkt an Nietzsches Askese-Konzept; Alt, der im Übrigen die Beziehung zu Nietzsche, Freud folgend, herunterspielt, meint, gerade diese Enthaltsamkeit habe ihn befähigt, der Arzt der Moderne zu werden.

Manchmal ist die biografische Darstellung übergenau und stellt Personen vor, die kaum eine Rolle spielten; manchmal ist Alt, was das Wien der damaligen Jahrhundertwende betrifft, nicht trittfest: dass der 1841 geborene Otto Wagner „seit Beginn des Ring(-Straßen) Projekts (1858, A. P.) eine Vielzahl von Straßen und Gebäuden in der inneren Stadt entworfen“ habe, hält ebenso wenig stand wie die vereinfachende Darstellung des Skandals um Gustav Klimts „Philosophie“.

Manches – etwa die beiden Ohnmachten Freuds im Konflikt mit Jung – ist schon involvierender erzählt worden. Auch gönnt der Biograf den abgefallenen Schülern nicht jene Sorgfalt in der Rekonstruktion ihrer Argumentation, die er dem suchenden Freud widmet. Doch die wirkliche Qualität des Buches liegt in der akribischen Arbeit am Text, in der begriffsgeschichtlichen Erforschung, aber auch in der oft vernachlässigten Interpretation schriftstellerischer Feinheiten wie etwa des Aufbaus der „Traumdeutung“ oder der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. Das gibt der Arbeit einen eigenen Rang und schafft eine Herausforderung für den Leser: Selbst von dem, dem Freuds Lehre bekannt ist, erfordert die Lektüre höchste Aufmerksamkeit. ■

Peter-André Alt

Sigmund Freud

Der Arzt der Moderne. Eine Biografie. 1036 S., 42 Abb., geb., € 36 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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