Der Jihad von Istanbul

Orientalisch ist der Orient nur für Westler. Das ist die Ausgangsthese Mathias Énards in seinem preisgekrönten Roman „Kompass“. Darin führt er eine unerfüllte Liebesgeschichte parallel mit zwei Jahrhunderten europäisch-orientalischer Kunstgeschichte. Ein Sehnsuchtsbuch zwischen Orient und Okzident.

Wien ist nach einem Diktum Hofmannsthals die „Porta Orientis“, der Ort der Begegnung, wo einst Beethoven einen Kompass besessen hat, der nach Osten statt nach Norden ausgerichtet war. Hier hat der Musikwissenschaftler und Orientalist Franz Ritter, der möglicherweise todkrank ist und sein Heim in der Porzellangasse nur ungern verlässt, gerade per altmodischer Post eine Nachricht von Sarah, der Liebe seines Lebens, erhalten. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Ritters Erinnerungen, Träume, Assoziationen wandern während einer schlaflosen Ö1-Klassiknacht zwischen Wien, Istanbul, Damaskus und Teheran umher und halten diesen grandiosen Sehnsuchtsroman zwischen Orient und Okzident im Innersten zusammen.

Seit den Zeiten von Napoleons Ägypten-Feldzug gilt der Orient als impulsgebendes Zauberreich für europäische Wissenschaften und Künste. Exotisch-innovative Stoffe und Motive finden Eingang in die Künste und ins Alltagsleben, sei es eine „Alla Turca“-Benennung bei Mozart, sei es eine Hafis-Übersetzung für den Goethe'schen „Westöstlichen Divan“, seien es erotische Fantastereien über unglaubliche Geschehnisse in orientalischen Harems oder Wünsche nach spiritueller Erneuerung. Der Orientalist Ritter versteigt sich einmal gar zu der These, „er habe all das bewiesen, habe darüber geschrieben, gezeigt, dass die Revolution der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts alles dem Orient verdanke“.

Franz und Sarah lernen sich bei einer Tagung zum Übersetzer und Orientalisten Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall im steirischen Schloss Hainfeld kennen. Die Liebe überfällt den nerdigen, etwas schüchternen Stubenhocker sofort, und wegen Sarah wird er sich in den kommenden Jahren auf ein „typisch“ orientalisches Wanderleben einlassen. Mit Grillparzer im Gepäck folgt er der ungleich begabteren Pariserin durch den halben Nahen Osten, durch die Wüste nach Palmyra, durch die Bibliotheken und Universitäten des Nahen Ostens. Außer einer gemeinsamen Nacht im Schlafsack und einer heißen Liebesnacht in Teheran wird aber nichts gewesen sein.

Mathias Énard erzählt ihrer beider unerfüllte Liebesgeschichte in symbolischer Parallelsetzung zu einer größeren Erzählung, nämlich zur von zwei Jahrhunderten europäisch-orientalischer Geistes- und Kunstgeschichte. Musikologische Abhandlungen stehen da neben historischen Reisegeschichten, Debatten über Orientalismus und Kolonialismus fügen sich in einen Text voller Querverweise zur türkischen, arabischen und iranischen Literatur, voller unglaublicher historischer Geschehnisse. Wer hat etwa schon gewusst, dass auf Betreiben Österreichs und Deutschlands am 14. November1914 in Istanbul der Jihad gegen alle Ungläubigen mit Ausnahme der Deutschen und Österreicher ausgerufen wurde? Das Ziel sollte die Destabilisierung der muslimischen Kolonien der Engländer, Franzosen und Russen sein – ein schön-absurder Plan, der sich im wahrsten Sinn des Wortes im Sand verlaufen ist.

Der Orient war und ist Teil Europas, die beiden brauchen einander in ihren Sehnsuchtsbildern und Zuschreibungen. Genau wie Orient und Okzident nicht mit- oder ohne einander auskommen, kommen Sarah und Franz lang nicht zusammen – oder vielleicht doch? So wenig wohl die meisten Flüchtlinge in den vergangenen Jahren ihr Europa finden, so wenig finden die Europäer ihren Orient, da es sich in beiden Fällen um selbst gebastelte Fiktionen handelt. Das Problem: „Die Orientalen haben nicht den geringsten Sinn für den Orient, den haben nur wir Westler.“ Eine gar nicht ironisch gemeinte Erkenntnis, die zwei Jahrhunderte westlicher Projektionen (und kolonialistischer Ausbeutung) auf einen sarkastischen Nenner bringt. Wie Franz ein Gefangener seiner unerfüllten Liebessehnsüchte ist, so sind auch Reisende in den Orient nur Gefangene von Bildern, die den Nahen Osten geheimnisvoll und exotisch sinnlich aufgeladen haben: „Sie sehen nicht. Sie glauben zu sehen, doch sie betrachten nur Abbilder.“ Spätestens seit Edward Said ist klar, dass unsere Idee vom Orient auf einem Konstrukt aus Bildern, einem Komplex von Repräsentationen beruht, „aus dem jeder, je nach Standpunkt, nach Belieben schöpft“. Énards in weiten Teilen sehr essayhafter Roman dringt tief in all diese Fragen nach der Differenz, dem Eigenen, dem anderen ein. Er (be-)schreibt die Geschichte der europäischen romantischen Orientbegeisterung von Karl May bis Franz Liszt, von Goethe bis zur Ethno-Musik als komplexes Gewebe der (Selbst-)Täuschungen. Ritter träumt in seiner gedankeneinsamen Nacht ja auch von einem Buchprojekt über die „Verschiedenen Formen von Wahn im Orient“ – eine Klassifikation der Krankheiten, die einen Reisenden befallen können.

Nicht zuletzt ist es auch ein Roman über Wien, seine Kaffeehäuser und Museen, auf die Énard einen gut informierten, aber auch ziemlich ironischen Blick wirft. Doch ist Wien für ihn auch ein Sehnsuchtsort, wie man in der „Presse“ im Dezember 2015 lesen konnte: Énard sieht im alten Wien eine Stadt, die sich angesichts des türkischen „anderen“ selbst träume, und sagt weiter: „Indem ich einen Österreicher wählte, wollte ich, dass er Europa in seiner ganzen Komplexität verkörpert.“ Mit „Kompass“ ist Énard tatsächlich ein Meisterstück gelungen, das nicht nur wegen seiner kongenialen Verschränkung von Essay- und Romanform neues Terrain erschließt. Ein würdiger Prix-Goncourt-Preisträger und zweifellos einer der Höhepunkte dieses literarischen Herbsts. ■

Mathias Énard

Kompass

Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 430 S., geb., € 25,70 (Hanser Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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